Während in ganz Deutschland an den Mauerbau erinnert wird, streitet die Linke über die historische Bewertung des 13. August 1961.
Schwerin. Weder Aufregung noch Zorn sind Helmut Holter anzusehen. In der Schweriner Linken-Zentrale sitzt der Spitzenkandidat für die Wahl in Mecklenburg-Vorpommern kerzengerade an einem kleinen Konferenztisch und zeigt keinerlei Regung. Seine Sätze sind monoton. Man sei immer ein diskussionsfreudiger Landesverband gewesen. "Aber jetzt wirken wir wie ein zerstrittener Landesverband", stellt der 58-Jährige ungerührt fest. Und er sagt: "Wir brauchen eine klare, unmissverständliche Aussage: Die Mauer war Unrecht." Holter will jetzt Ruhe ausstrahlen. Ruhe, die seiner Partei gerade jetzt vor der Landtagswahl am 4. September abhanden gekommen ist.
Wie hältst du's mit der Mauer? Das ist die neue Gretchenfrage der Linkspartei. Weil man sich ausgerechnet am 50. Jahrestag des Mauerbaus in Rostock zum Landesparteitag trifft, wird über die Frage der Notwendigkeit des Mauerbaus seit Wochen heftig gestritten. Beim Parteitag wird der Disput weitergehen. Denn eine prominente Gruppe um den früheren SED-Genossen Arnold Schoenenburg verteidigt den Mauerbau. "Thesen zum 50. Jahrestag der Berliner Mauer" haben die Linken-Mitglieder ihr Positionspapier genannt. Sie wollen es nicht nur ausführlich vorstellen, sie wollen auch abstimmen lassen, ob der Landesverband gesondert über das Mauerthema eine Konferenz veranstalten soll. Sie schreiben: "Die Entscheidung für den Mauerbau war 1961 für die Führungen der Sowjetunion und der DDR alternativlos." Und sie schlussfolgern: "Der Frieden in Europa war sicherer geworden." Auch der Landesvorstand hat ein Papier zum Mauerbau erarbeitet. Dort heißt es indes: Kein Ideal und kein höherer Zweck können das mit der Mauer verbundene Unrecht, die systematische Einschränkung der Freizügigkeit und die Gefahr für Freiheit sowie für Leib und Leben beim Versuch, das Land dennoch verlassen zu wollen, politisch rechtfertigen.
"Am 4. September steht nicht die Mauer zur Wahl, sondern die Zukunft unseres Landes", versucht nun Holter den Streit zu beenden, noch bevor er in Rostock richtig beginnt. Die politische Konkurrenz ist dennoch entsetzt. "Die aktuelle Debatte zur Rechtfertigung des Baus der Mauer macht mich sprachlos", so CDU-Landeschef und Innenminister Lorenz Caffier gegenüber dem Abendblatt. Auch mit ihrer Kommunismus-Debatte schieße sich die Linke selbst ins Aus, sagt der CDU-Spitzenkandidat. Die Linke sei mit ihrem Programm und ihren Debatten für die Zukunft des Landes nicht hilfreich. "Das weiß auch die SPD." Die aber will sich nicht festlegen, wen sie lieber als Juniorpartner hätte - weiter die CDU oder wieder die Linke, mit der sie 1998 bis 2006 regierte. Linken-Spitzenkandidat Holter will an die rot-roten Zeiten anknüpfen. Der frühere Arbeitsminister sieht sich selbst als Vertreter des pragmatischen Kurses, den die Linke auch in anderen Ost-Bundesländern verfolgt. Nur Debatten wie die um den Sinn der Mauer passen so gar nicht in dieses Bild.
Und auch die Wortmeldungen aus der Parteispitze zur Mauerfrage sorgen für Irritationen. So stellte vor Kurzem die Vorsitzende der Linken, Gesine Lötzsch, eine "enge" Verbindung zwischen dem 70. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion und dem 50. Jahrestag des Mauerbaus her. "Die Teilung Deutschlands war ein Ergebnis des Zweiten Weltkriegs", erklärte Lötzsch. Mehr über die Mauer und ihre Entstehung sagte sie lieber nicht. Distanzierung sieht anders aus. Das scheint auch dem Fraktionsvize Dietmar Bartsch aufgefallen zu sein. Er stellte klar, dass sich Freiheit, Demokratie und Sozialismus nicht mit Mauern umsetzen ließen. Bartsch verlangte von seinen Parteifreunden in dieser Frage ein "hohes Maß an Sensibilität".
Im Wahlkampf haben die SED-Nachfolger bereits an Rückhalt verloren. Bei 18 bis 19 Prozent liegt die Partei in den jüngsten Umfragen im Nordosten, weit entfernt von der SPD mit 34 und der CDU mit rund 30 Prozent. Vor zwei Jahren, als Holter sich entschloss, Sellering als Regierungschef abzulösen, weilte man in anderen Sphären: 29 Prozent holte die Linke bei der Bundestagswahl 2009. "Wir wollen klar bei über 20 Prozent landen", hat Holter inzwischen die Erwartungen an den ersten Septembersonntag gesenkt. Und der einst so selbstbewusst postulierte Anspruch, Ministerpräsident zu werden? "Ich will in der nächsten Regierung mitarbeiten", sagt er zuerst. Erst auf Nachfrage gibt er trocken zu Protokoll: "Mein Anspruch ist geblieben, neuer Ministerpräsident zu werden." Holter weiß, dass das langsam komisch klingt. Aber er verzieht keine Miene.