Die SPD-Spitze wollte ein schnelles Ende der Affäre Sarrazin. Jetzt rebelliert die Basis dagegen, dass der Provokateur Sozialdemokrat bleiben darf
Hamburg/Berlin. Nach all den Wahlterminen in diesem Jahr gewinnen ein neues Datum und ein neuer Ort für die deutschen Sozialdemokraten an Bedeutung: der 3. Mai in Waltrop. In der Stadthalle des Ruhrgebietsstädtchens wird Thilo Sarrazin seinen ersten öffentlichen Auftritt haben, nachdem seine Partei ihm und sich selbst seinen Partei-Rauswurf vor Ostern erspart hat. Dann dürfen die Spitzen der SPD gespannt verfolgen, ob sich der störrische Autor angesichts des Entgegenkommens seiner Partei mit seinen provokanten Thesen nun wie erhofft zurückhält. Oder ob er das wiederholt, was er in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" geschrieben oder in Interviews gesagt hat und was SPD-Parteichef Sigmar Gabriel im Spätsommer 2010 in die Nähe von Eugenik und Sozialdarwinismus gerückt hat. Der 66-Jährige hatte unter anderem erklärt, alle Juden teilten ein bestimmtes Gen, und vor einer Überfremdung durch weniger intelligente Ausländer gewarnt.
Neue Provokationen durch den ehemaligen Berliner Finanzsenator dürften einer Blamage für die SPD-Spitze gleichkommen. Die hat die Einstellung des Parteiausschlussverfahrens gegen Sarrazin mit dessen neuer Einsicht begründet. Sogar SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, eigentlich als Chefanklägerin gegen Sarrazin berufen, übte sich als Verteidigerin: "Thilo Sarrazin hat seine sozialdarwinistischen Äußerungen relativiert, Missverständnisse klargestellt und sich auch von diskriminierenden Äußerungen distanziert." Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) erklärte in der "Rheinpfalz", Sarrazin habe sich einsichtig gezeigt und damit den Weg für die Einstellung des Ausschlussverfahrens geebnet.
Sarrazin hatte zuvor in einer Erklärung versichert, er habe weder Migranten diskriminieren noch sozialdemokratische Grundsätze verletzen wollen. Die SPD-Spitze hatte daraufhin am Gründonnerstag ihre Ausschlussanträge gegen Sarrazin zurückgezogen - und zahlreiche Parteigenossen verärgert. "Die dürre Erklärung ist unbefriedigend", sagte Baden-Württembergs SPD-Landeschef Nils Schmid "Spiegel Online". Er warf der SPD-Spitze vor, mit ihrer plötzlichen Kehrtwende für ein unklares Bild in der Integrationspolitik zu sorgen. Schmid, selbst mit einer Frau mit türkischen Wurzeln verheiratet, warnte: "Unsere mühselig aufgebaute Verankerung in der Einwanderer-Community droht Schaden zu nehmen." Seit 150 Jahren würden Sozialdemokraten darum kämpfen, dass soziale Herkunft kein Schicksal sein dürfe. Sarrazin stelle das "mit seinen biologistischen Thesen massiv infrage".
Der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände, Mehmet Tanridverdi, kündigte in der "Berliner Zeitung" seinen Austritt aus der SPD an. "Ich bin zutiefst enttäuscht", sagte Tanridverdi, der auch SPD-Stadtverordneter in Gießen ist. Sarrazin werde offenbar aus wahltaktischen Gründen in der Partei gehalten. Am Wochenende hatte bereits die Türkische Gemeinde in Deutschland zu Protesten gegen einen Verbleib Sarrazins in der SPD aufgerufen.
"Ich hätte mir ein anderes Ergebnis des Verfahrens gewünscht, weil die sozialdarwinistischen Thesen von Thilo Sarrazin mit den Grundwerten der SPD unvereinbar sind", sagte Hessens SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel der "tageszeitung". "Mit Sarrazin darf ein Mann weiter SPD-Mitglied bleiben, der die Grundsätze der Sozialdemokratie fundamental und wiederholt verhöhnt hat", protestierte der sächsische Juso-Landesvorsitzende Tino Bucksch.
Trotz der derzeitigen Proteste ahnen zahlreiche führende Sozialdemokraten aber wohl, dass die schnelle Einigung der Partei möglicherweise eine längerfristige Zerreißprobe erspart. So hatte sich SPD-Bundestagsfraktionschef Frank-Walter Steinmeier nach der Einigung erfreut über die schnelle Beilegung des Streits geäußert: "Ich bin froh, dass der SPD ein jahrelanges Verfahren durch alle Instanzen erspart bleibt", sagte Steinmeier der "Bild"-Zeitung. Man könne nicht einfach jemanden aus der Partei werfen, "auch nicht, wenn er sich noch so kontrovers verhält", meinte Generalsekretärin Nahles.
Der niedersächsische SPD-Landeschef Olaf Lies sagte dem Hamburger Abendblatt, er sei unzufrieden mit dem Ergebnis des Verfahrens. "Ich fürchte aber, dass die Partei keine andere Wahl hatte. Hätte die SPD Sarrazin ausgeschlossen, hätte sie ihm damit die Möglichkeit eröffnet, in die Revision zu gehen und damit wieder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen." Es sei nicht zu ertragen, wenn ein Sozialdemokrat mit haltlosen Thesen an die Öffentlichkeit gehe, die ganze Menschengruppen verletzen. "Meine Sorge ist, dass Sarrazin die nächste Chance nutzen wird, um wieder zu provozieren", sagte Lies.
Auch Nahles räumt ein, man könne nicht sicher sein, dass Sarrazin nicht noch einmal mit provokanten Aussagen aufwarten werde. "Aber ich glaube, er weiß auch, was damit dann für ihn auf dem Spiel steht", sagte sie.
Ob Sarrazin dieses Vertrauen verdient, wird sich in den kommenden Wochen beweisen. Demütig klang der Sozialdemokrat zumindest nicht. Der Entschluss sei ein "Sieg der Vernunft", sagte er der "Welt". Zugleich zeigte er sich in der "Berliner Morgenpost" überzeugt, dass die Einigung der Berliner SPD bei der Abgeordnetenhauswahl am 18. September helfen werde. Einige Bürger hätten ihm signalisiert, dass sie jetzt nach seinem Verbleib in der Partei die SPD auch wieder wählen könnten.