Die CDU-Politikerin mahnt die Jobcenter zu besserer Vermittlung und warnt vor dramatischem Fachkräftemangel.
Hannover. Hamburger Abendblatt:
Frau Ministerin, die Arbeitslosenzahl ist deutlich gesunken. Hat Deutschland die Wirtschaftskrise überstanden?
Ursula von der Leyen:
Nein, die Krise ist noch nicht überstanden. Aber der deutsche Arbeitsmarkt ist verblüffend robust geblieben. International spricht man schon vom deutschen Jobwunder. Das hat zwei Ursachen ...
... nämlich?
Die Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre haben uns stark in die Krise gehen lassen. Und die Regelungen zur Kurzarbeit haben verhindert, dass die Arbeitslosigkeit dramatisch angestiegen ist.
Reicht das, um die Arbeitslosigkeit unter der Vier-Millionen-Marke zu halten?
Es zeichnet sich ab, dass die Arbeitslosenzahl in diesem Jahr nicht über vier Millionen steigen wird. Es kann den einen oder anderen Monat geben, in dem wir knapp unter die Vier-Millionen-Grenze kommen. Aber im Durchschnitt rechnen wir für 2010 mit 3,6 bis 3,7 Millionen Arbeitslosen. Langfristig wird Qualifikation das wichtigste Thema sein. Die Wirtschaft braucht Fachkräfte. Wir sehen die ersten Anzeichen eines Fachkräftemangels, der dieses Land stärker verändern wird, als die Krise es getan hat.
Das klingt dramatisch.
Aufgrund des demografischen Wandels werden in 20 Jahren fünf Millionen weniger Erwerbstätige da sein, wenn wir so weitermachen wie bisher. Wir bleiben bisher unter unseren Möglichkeiten, das Land hat Reserven: gut ausgebildete Frauen, die gerne arbeiten würden, aber Beruf und Familie nicht vereinbaren können; sozial benachteiligte Kinder, die zu wenig gefördert werden und Schule oder Ausbildung nicht schaffen; Ältere, deren Berufserfahrung ungenügend genutzt wird. Den Silberschatz des Alters zu entdecken wird die Herausforderung der nächsten Jahre sein.
Konkret bedeutet das?
Wir werden bei immer besserer Gesundheit immer älter. Wir müssen diese gewonnenen Jahre geschickter nutzen. Arbeit bis 67 ist positiv, wenn es gelingt, die Rahmenbedingungen für ältere Menschen so zu gestalten, dass sie auch die reelle Chance haben, lange in der Arbeitswelt mitzumischen. Dafür brauchen wir beispielsweise maßgeschneiderte Weiterbildung.
Lässt sich der Fachkräftemangel ohne Zuwanderung beheben?
Das bezweifle ich. Zuwanderung enthebt uns aber nicht der Aufgabe, die Qualifikation der Menschen, die hier leben, zu verbessern. Wenn wir es schlecht machen, sehen wir in einigen Jahren einem drastischen Fachkräftemangel entgegen bei gleichzeitiger Massenarbeitslosigkeit, weil Menschen nicht ausreichend ausgebildet sind für die Fertigkeiten, die gebraucht werden.
Die Zunahme befristeter Arbeitsverhältnisse alarmiert die Gewerkschaften. DGB-Chef Sommer spricht von "gesellschaftlicher Perversion". Was entgegnen Sie?
Befristete Arbeitsverhältnisse nehmen zu, das stimmt. Aber unbefristete nehmen nicht ab. Das heißt, es sind zusätzliche Jobs entstanden. Heute sind immer noch 91 Prozent aller Arbeitsverhältnisse unbefristet, und wir wissen auch, dass jede zweite befristete Stelle in eine unbefristete übergeht. Wie alle Industriestaaten um uns herum entwickeln wir uns zur Dienstleistungsgesellschaft, da rückt der Faktor Mensch mehr in den Vordergrund. Befristung ist eine Möglichkeit, einander kennenzulernen. Ich sehe das nicht als Alarmzeichen.
Sie wollen befristete Arbeit erleichtern. Was planen Sie?
Im Koalitionsvertrag gibt es einen Prüfauftrag. Der bezieht sich auf eine Situation ganz am Anfang beim Einstieg ins Berufsleben, die in der Tat unbefriedigend ist: Wenn jemand in seiner Ausbildungszeit ein Praktikum gemacht hat bei einer Firma, gut war und übernommen werden soll, kann er nicht befristet eingestellt werden, wie das bei allen anderen Bewerbern der Fall wäre. Das ist ein Nachteil. Niemand hat vor, die Befristung generell auszuweiten, und in der Krise haben wir wirklich andere Aufgaben, die vorrangig sind.
Die Gewerkschaften sehen fehlende Sicherheit im Job als Ursache für die niedrige Geburtenzahl in Deutschland ...
Berufsanfänger fragen sich doch nicht: Ist mein Job lebenslang gesichert? Das ist heute nicht mehr Lebenswirklichkeit. Die wollen erst einmal rein ins Arbeitsleben. Die Mehrheit der unter 25-Jährigen startet immer mit einem unbefristeten Job. Aber jedes zweite Arbeitsverhältnis wird nach Ablauf der vereinbarten Zeit entfristet. Und bei den über 50-Jährigen arbeiten 95 Prozent unbefristet. Klar ist, dass sich in der Mitte des Lebens die Vorzeichen umkehren. Wenn Kinder kommen, steigt das Bedürfnis nach Sicherheit. Aber der unbefristete Vertrag ist nur eine Facette. Ebenso entscheidend ist die Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung - übrigens nicht nur bei Hochqualifizierten.
Worauf wollen Sie hinaus?
Ich denke an jene, die bisher keine Chance haben, in den Arbeitsmarkt reinzukommen: die Alleinerziehenden in der Langzeitarbeitslosigkeit. Alleinerziehende Mütter und Väter sind genauso gut qualifiziert wie der Rest der Bevölkerung, aber 40 Prozent von ihnen sind in Hartz IV. Alleinerziehende wollen raus aus der Langzeitarbeitslosigkeit, doch die Hürden sind zu hoch: Es mangelt an Plätzen in Kindertagesstätten und Ganztagsschulen, es mangelt an familienfreundlichen Arbeitszeiten.
Fällt Ihnen das jetzt erst auf?
Dass es diese Gruppe besonders schwer hat, war klar. Doch die aktuellen Bilanzen zu fünf Jahren Arbeitsmarktreform legen den Finger noch einmal in die Wunde. Es gibt 600 000 Alleinerziehende mit einer Million Kindern in Hartz IV. Diese Gruppe hat als Einzige auch nicht von der guten Konjunktur vor der Krise profitieren können. Das darf sich im nächsten Aufschwung nicht wiederholen. Ich werde am 21. April dem Haushaltsausschuss des Bundestages ein detailliertes Konzept vorlegen, wie die Situation von Alleinerziehenden auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden kann.
Wie sieht dieses Konzept aus?
Meine Aufgabe als Arbeitsministerin ist es, dafür zu sorgen, dass in den Jobcentern, die in den vergangenen Jahren viel serviceorientierter geworden sind, auch der Blick auf Alleinerziehende anders wird. Wir müssen weg von der Haltung: Da ist ein kleines Kind, da hat es keinen Sinn zu vermitteln. Die Jobcenter müssen aktiv mithelfen, die Hürden aus dem Weg zu räumen. Zum Beispiel können sie eine gute Kinderbetreuung organisieren. Sie können auch mit den Arbeitgebern geeignete Arbeitsbedingungen aushandeln. Ich will ein neues Denken mit mehr Flexibilität und Sensibilität.
Frau von der Leyen, Sie sind so ziemlich das beliebteste Mitglied einer unbeliebten Bundesregierung. Freuen Sie sich darüber?
Das löst bei mir vor allem den Ansporn aus, die Erwartungen auch zu erfüllen.
Haben Sie einen Tipp für Ihre Kabinettskollegen?
Arbeiten. Das habe ich von erfahrenen Kollegen wie Wolfgang Schäuble gelernt.
Wenn Sie Gesundheitsministerin geworden wären, müssten Sie jetzt die umstrittene Kopfpauschale durchsetzen. Gibt es Momente, in denen Sie Ihren Kollegen Rösler bedauern?
Philipp Rösler ist ein kompetenter, gradliniger Minister und ein wirklich guter Freund, den ich bewundere. Er ist klug, arbeitet sich in die Tiefe der Themen ein, geht dann seinen Weg und lässt sich nicht verschrecken ...
... nicht mal von CSU-Politikern wie Seehofer und Söder, die schon ihr Veto gegen die Gesundheitsprämie angekündigt haben?
Von niemandem.
In vier Wochen sind Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Was kann Schwarz-Gelb in Berlin tun, damit Schwarz-Gelb in Düsseldorf doch noch gewinnt?
Gut arbeiten - dazu sind wir da. Die letzten Wochen waren nicht so, dass man zufrieden sein könnte. Deswegen freue ich mich, dass es jetzt nach der Osterpause mit neuem Schwung weitergeht.
Was würde ein Wechsel zu Schwarz-Grün bedeuten?
Ich bin Arbeitsministerin und nicht Koalitionsministerin. So was kommentiere ich nicht.
In Hamburg regieren CDU und Grüne seit 2008. Ein Projekt mit Modellcharakter?
Ich informiere mich über die Schwierigkeiten und Fortschritte in Hamburg und verfolge die Arbeit von Ole von Beust mit Respekt und Neugier. Da muss man nicht immer gleich alles hineininterpretieren.
Kanzlerin Merkel gilt als heimliche Befürworterin schwarz-grüner Bündnisse. Ist das auch Ihr Eindruck?
Diese Frage stellt sich mir nicht. Fragen über die Kanzlerin müssen Sie ihr schon selber stellen.
Genau vor zehn Jahren ist Angela Merkel CDU-Vorsitzende geworden. Wie hat sich die Partei seither verändert?
Sie ist offener geworden, der weibliche Blick ist viel stärker geworden. Die CDU ist aufgeschlossener für die Zukunft. Ich schätze an der Kanzlerin vor allem, dass sie mit ganz großem Geschick um sich herum Menschen schart, die auch über wichtige Weichenstellungen für die Zukunft nachdenken. Ich kann mir die Zusammenarbeit nicht besser wünschen. Solange ich meine Arbeit gut mache, lässt sie mir ganz viel freie Hand.
Ein idealer Führungsstil?
Ich bin ein freiheitsliebender Mensch und trage gern die ganze Verantwortung für mein Ressort. Und wenn es Abstimmungsbedarf gibt, schließe ich mich mit der Kanzlerin kurz.
Auf welchem Weg?
Zunächst ganz unkompliziert per SMS.