Deutschland steht vor Rekord-Steuereinnahmen. Jetzt entbrennt der Streit ums Geld
Berlin. Noch im Mai hatten die Schätzer Milliardenausfälle vorhergesagt. Jetzt zeichnet sich für das Jahr 2012 ein Rekord-Steueraufkommen von 563,2 Milliarden Euro ab. Eine Summe, die Begehrlichkeiten weckt - und die große Frage aufkommen lässt, wofür die Mehreinnahmen ausgegeben werden sollen. So sieht nicht nur Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) Spielräume für Steuersenkungen. "Wir wollen auch den Freiraum schaffen, dass wir steuerlich die Mitte entlasten", sagte der Minister. Er gehe fest davon aus, dass Schwarz-Gelb noch in dieser Wahlperiode handeln werde.
Das Dilemma der Koalition ist offensichtlich: Zwar können sich vor allem die Haushaltspolitiker lobend auf die Schulter klopfen, dass ihr Kurs funktioniert hat - allerdings kommen mit den guten Zahlen auch die Diskussionen. "Für Steuererleichterungen ist derzeit kein Raum", sagte Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) dem Abendblatt. Für sein Land habe die Haushaltskonsolidierung die höchste Priorität. "Das Grundgesetz zwingt die Länder, ab 1. Januar 2020 ganz auf neue Schulden zu verzichten. Dafür haben wir die Weichen gestellt.
Auch der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion Otto Fricke sagte dem Abendblatt, die Zahlen seien "nur weiterer Ansporn, den Konsolidierungskurs konsequent fortzusetzen". Steuerliche Entlastungen seien erst machbar, "sobald sich bei Einhaltung der Vorgaben der Schuldenbremse Möglichkeiten" ergeben würden. "Nachhaltiges Wachstum und konsequente Ausgabenkontrolle" seien Voraussetzung für gesunde Staatsfinanzen. Der Fiskus profitiert davon, dass das Wirtschaftswachstum mit 3,4 Prozent in diesem Jahr deutlich stärker ausfallen wird als gedacht. Im Mai war die Regierung noch von 1,4 Prozent ausgegangen. Während die Gewinne der Unternehmen stiegen, sank die Arbeitslosigkeit. Von dem Steuerplus bis 2012 entfallen 24,3 Milliarden Euro auf den Bund, der Rest verteilt sich auf Länder und Gemeinden sowie auf die EU. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) zufolge dürften die Einnahmen sogar noch vier Milliarden Euro höher liegen, weil ab 2011 neue Steuern wie die Flugticketabgabe hinzukommen. Es gebe aber keinen Grund zur Entwarnung, sagte er. Für die Koalitionsspitze sei klar, dass die Sanierung der öffentlichen Finanzen Priorität habe.
Für Irritationen hatte Schäuble zuvor bei der Bekanntgabe der neuen Steuerschätzung gesorgt. Aus Verärgerung über die mangelhafte Vorbereitung seines Ministeriums verließ er wutentbrannt die Pressekonferenz. Der Finanzminister war unzufrieden darüber, dass den rund 50 Journalisten die neue Prognose noch nicht schriftlich vorlag. "Ich verlasse diese Pressekonferenz so lange, bis die Zahlen verteilt sind", herrschte er seinen Chefsprecher Michael Offer an. Schäuble sagte, er habe bereits 20 Minuten vor Beginn der Pressekonferenz darauf bestanden, dass alle Informationen ausgeteilt sein sollen. Auf Einwände seines Sprechers konterte der Minister mit den Worten: "Reden Sie nicht, sondern sorgen Sie dafür, dass die Zahlen verteilt werden."
Die 563,2 Milliarden Euro, die der Staat nach den aktuellen Schätzungen einnimmt, wären ein neuer Rekord. Der bisherige Spitzenwert fiel auf das Vorkrisenjahr 2008 mit 561,2 Milliarden Euro. "Es ist ein gewaltiger Trugschluss zu glauben, dass jetzt mehr Geld verfügbar ist", sagte jedoch der FDP-Finanzexperte Hermann Otto Solms dem Abendblatt. "Wir werden dieses Jahr 50 Milliarden Euro neue Schulden machen." Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Joachim Poß, nannte die Debatte um Steuersenkungen eine "irrationale Diskussion". Es gebe die gemeinsame Priorität, Schulden abzubauen. "Dem müssen wir auch entsprechen", sagte Poß dem Abendblatt. Anders als die Regierungskoalition setzt die SPD auf eine Entlastung der Kommunen. "Das ist im Moment am wichtigsten", so Poß. "Zum Beispiel fordern wir, dass die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft von Langzeitarbeitslosen um 400 Millionen Euro angehoben wird."
Auch Kommunalverbände warnten vor Steuersenkungen. Städtetags-Präsidentin und Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU): "Die steigenden Steuereinnahmen sind erfreulich, aber sie können die riesigen kommunalen Haushaltsprobleme nicht lösen." Nach Ansicht des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sollte die Regierung die Mehreinnahmen für Korrekturen am Sparpaket nutzen. Sie müsse die Streichung des Heizkostenzuschusses, die Kürzung des Elterngeldes und die Streichung des Zuschusses zur Rentenversicherung von Hartz-IV-Beziehern zurücknehmen, forderte DGB-Chef Michael Sommer.