Ex-Kanzler wünscht sich Aufnahme der Türkei und Freihandelszone mit Russland
Hamburg. Seit fünf Jahren ist Gerhard Schröder nicht mehr deutscher Bundeskanzler. Doch wer ihm gestern Abend bei seinem Auftritt in der Bucerius Law School lauschte, der musste den Eindruck bekommen: Der Mann würde gerne wieder an den Strippen internationaler Politik ziehen dürfen. Schon der Titel seiner Rede hatte staatstragende Ausmaße: "Perspektiven und Herausforderungen für Deutschland und die Europäische Union in einer globalisierten Welt".
In einer politischen Tour d'horizon sprach sich der SPD-Politiker für eine Aufnahme der Türkei und der Balkan-Staaten in die EU und eine Reform der Union aus. "Die Balkan-Staaten müssen beitreten, weil es die Chance auf ein friedliches Zusammenleben im ehemaligen Jugoslawien ermöglicht", forderte Schröder. Eine vollwertige Mitgliedschaft der Türkei - für die sich der Ex-Kanzler früher schon während seiner Amtszeit ausgesprochen hatte - sei dagegen im wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interesse Europas. Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen dagegen wäre unverantwortlich: "Er würde innenpolitisch das Land radikalisieren und die Türkei von Europa entfremden." Zuerst müsse Ankara aber alle Beitrittskriterien erfüllen. "Ein EU-Mitgliedstaat Türkei wird zeigen, dass es eben keinen unauflösbaren Widerspruch zwischen Demokratie und islamisch geprägter Gesellschaft gibt", sagte Schröder.
Zugleich müsse die Gemeinschaft Russland enger an sich binden. "Es reicht nicht, nur über ein neues Partnerschafts- und Kooperations-Abkommen zwischen EU und Russland zu verhandeln." Europa brauche Russland wegen dessen Rohstoff-Ressourcen und seiner Bedeutung für die Stabilität des Kontinents, sagte Schröder, der auch Aufsichtsratschef der Nord Stream AG (Ostsee-Pipeline) ist, die russisches Erdgas nach Deutschland bringen soll.
Nötig sei ein Assoziierungsvertrag, um eine neue völkerrechtliche Qualität in den Beziehungen zu erreichen, "einen völkerrechtlichen Vertrag, um den Handel weiter bis hin zu einer Freihandelszone zu öffnen, gemeinsame Infrastrukturprojekte umzusetzen, einen regelmäßigen und vertieften politischen Dialog zu führen und vereinfachte Visaregeln zu schaffen."
Auch gelte es, die aufstrebende Wirtschaftsmacht China nicht herablassend zu behandeln. Immerhin hätten noch vor 30 Jahren in China "Hunger, Not und andere Formen der Unterdrückung" geherrscht. "Aber immer noch gibt es Armut, vor allem in den ländlichen Regionen. Daher ist verständlich, dass die chinesische Führung der Verwirklichung der sozialen Menschenrechte derzeit Vorrang gibt." Milde Worte für ein Land, das gerade einen Friedensnobelpreisträger in Haft hält.