Die Grünen-Fraktionschefin Renate Künast spricht im Abendblatt-Interview über einen positiven Zukunftstrend und das erste Jahr Schwarz-Gelb.

Berlin. Die Grünen sind ein Jahr nach der Bundestagswahl auf dem Weg zur Volkspartei. Fraktionschefin Renate Künast will trotzdem nicht abheben.

Hamburger Abendblatt:

Frau Künast, wie schön ist es, ein Jahr nach der Bundestagswahl Renate Künast zu sein?

Renate Künast:

Mir geht's gut, danke.

Sie können es sich ja gerade aussuchen, auf welcher Bühne Sie mitspielen wollen. Was wäre Ihnen denn lieber, die erste Regierende Bürgermeisterin Ihrer Partei in Berlin zu sein oder die erste grüne Kanzlerkandidatin?

Künast:

Am liebsten wäre es mir, wir würden mal über Inhalte reden! Diese Personaldebatten über grüne Kandidaturen sind doch eine reine Medienblase, die mit den Realitäten und den Interessen unserer Wähler nichts zu tun hat. Die erwarten, dass wir unsere Kraft zum Beispiel in die Entwicklung erneuerbarer Energien stecken. Das hat die Berliner Anti-Atom-Demonstration vergangenes Wochenende erwiesen. Und mit Verlaub, damit möchte ich mich jetzt auch beschäftigen.

Sie liegen jetzt schon gleichauf mit der SPD, mit der Sie gemeinsam locker die Regierung stellen könnten - ob unter einem grünen oder einem SPD-Kanzler.

Künast:

Heben Sie ruhig ab - wir bleiben lieber auf dem Teppich und gucken, dass auch der auf dem Boden bleibt. Natürlich freuen wir uns über die guten Umfragewerte, aber in aller Demut: Darin liegen Erwartungen, und das heißt Arbeit! Die K-Debatte kann ich schon deshalb nicht ernst nehmen, weil jetzt gar keine Bundestagswahl ansteht. Jetzt heißt es arbeiten und nicht abheben. Das gilt auch für die SPD.

Woher kommt das Hoch?

Künast:

Das erste Jahr unter Schwarz-Gelb ist ein verlorenes Jahr für unser Land. Diese Koalition hat seit der letzten Wahl noch keine einzige zentrale Zukunftsfrage angepackt, geschweige denn gelöst - weder auf dem Energiesektor, noch in der Bildung, noch im Finanzbereich und bei der Bekämpfung der Armut alleinstehender Frauen. Uns traut man die Antworten zu.

Bei den Wahlen in Baden-Württemberg könnten Sie die SPD überholen. Sind die Grünen dann eine Volkspartei?

Künast:

Volksparteien addieren Gruppeninteressen und glauben, das Ergebnis sei eine Politik für alle. Dieses Konzept hat keine große Zukunft mehr, wie an den Problemen von Union und SPD zu besichtigen ist. Wir Grünen sind als Partei in einer neuen Entwicklungsphase angekommen, in der man von uns erwartet, dass wir Verantwortung für das Ganze übernehmen. Ich nenne Ihnen ein aktuelles Beispiel: Die SPD will die Rente mit 67 kippen. Wir fragen: Was ist die Alternative? Höhere Beiträge oder niedrigere Renten?

Meinungsforscher sagen, dass es Ihnen dafür an Kompetenz in Kernbereichen wie der inneren Sicherheit mangelt.

Künast:

Einspruch! Soll ich Ihnen aufzählen, welche Ressorts schon von Grünen geleitet wurden und werden? Von Außen, Land- und Lebensmittelwirtschaft, Umwelt und Gesundheit im Bund bis zu Finanzen, Justiz und Verkehr auf Länderebene. Okay, wir hatten noch keinen grünen Innenminister. Aber das wird sich ändern.

Die Grünen haben als Protestpartei begonnen, 30 Jahre später begreift man Sie als bürgerlich ...

Künast:

Bürgertum und gesellschaftliche Mitte haben sich verändert - in vielen Dingen unter dem Einfluss der Grünen und in unsere Richtung. Aber auch wir Grünen sind nicht stehengeblieben. Nehmen Sie die Familie: Als wir uns gründeten, war Familie ziemlich eng definiert. Erwerbsarbeit für Frauen war kaum Thema. Heute heißt Familie, wenn Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, egal ob verheiratet, hetero oder homo. Und in diesem Sinne ist für uns Grüne heute Familie ein Wert an sich. Das Bürgertum ist heute offen und wertegeleitet. Wir sind die linke Mitte und vertreten einen Großteil dieses Bürgertums.

Akademiker, Besserverdiener, Bionade-Biedermeier ...

Künast:

Was soll man gegen Bionade haben? Ich freue mich darüber, dass unsere Gegner immer so bemüht sind, Etiketten für uns zu finden. Das zeigt, dass sie in Sorge sind.

Haben Sie es jemals ernsthaft für möglich gehalten, mit der CDU im Bund zu regieren?

Künast:

Wir haben gesagt: Öffnen wir mal die Tür und schauen, was die anderen machen. Wenn ich heute gucke, muss ich feststellen: Angela Merkel hat die Tür mit ihrer Entscheidung, die Laufzeiten der Atomkraftwerke zu verlängern, laut zugeschlagen.