Experten sehen einen „Hype“ wie zuletzt bei der FDP und eine „Popularitätsblase“. Die Grünen reden von eigenen Ministerpräsidenten.
Hamburg/Berlin. Stuttgart 21 , der umstrittene Atom-Deal der Bundesregierung und die anhaltende Schwäche der schwarz-gelben Bundesregierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel bescheren den Grünen in Deutschland einen Höhenflug. Auch wenn planmäßig erst wieder in drei Jahren ein neuer Bundestag gewählt wird, profitieren die Grünen nach Expertensicht bereits in den kommenden Landtagswahlen wie in Baden-Württemberg.
Nach der neuen Forsa-Umfrage von „Stern“ und RTL liegen die Grünen bei 24 Prozent der Wählerstimmen – gleichauf mit der SPD. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sieht seine Partei bereits als neuen Hauptgegner der CDU – anstelle der Sozialdemokraten. Die Konkurrenz wiegelte dagegen ab. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann sagte, die Grünen stünden nur so gut da, weil sie auf Landesebene wenig Verantwortung trügen und keine unangenehmen Entscheidungen treffen müssten.
Bei der Bundestagswahl vor einem Jahr hatten die Grünen im Bund einen Stimmenanteil von 10,7 Prozent erreicht – ihr bis dahin bester Wert auf Bundesebene und doch eine Enttäuschung. Schließlich wurden sie nur fünft- statt wie erhofft drittstärkste Kraft. In den vergangenen Monaten legte die Partei in Umfragen kontinuierlich zu.
Die regierende Koalition von Union und FDP kommt zusammen nur auf 34 Prozent. Für die Union würden laut Umfrage nur noch 29 Prozent der Wähler stimmen – sie liegt fast fünf Punkte unter ihrem mageren Resultat von 33,8 Prozent vor einem Jahr. Am stärksten aber ist im Vergleich mit der Bundestagswahl die FDP abgestürzt: Zum dritten Mal in Folge kommt sie auf fünf Prozent. Seit der Wahl vor einem Jahr, als sie mit einem Rekordergebnis von 14,6 Prozent triumphierte, hat sie zwei Drittel ihrer Wähler verloren.
Trittin sieht angesichts der Entwicklung bereits eine langfristige Verschiebung der Wählerstimmung. In den nächsten Wahlkämpfen werden sich seiner Ansicht nach nicht mehr CDU und SPD als Hauptgegner gegenüberstehen, sondern CDU und Grüne . Er habe „mit Interesse“ zur Kenntnis genommen, dass CDU-Chefin Angela Merkel die Grünen von Atom bis „Stuttgart 21“ als ihren eigentlichen Gegner sehe, sagte Trittin und betonte: „Diese Herausforderung nehmen wir gerne an.“ Es gebe in Deutschland derzeit eine klare Alternative in der Energiepolitik. „ Das eine Modell ist von der CDU und steht für Atom , das andere ist von den Grünen und steht für erneuerbare Energien“, sagte Trittin.
Auch in den Ländern mit anstehenden Wahlen sind die Grünen im Aufwind. Jüngste Umfragen bescheinigten ihnen in Baden-Württemberg eine Zustimmung von 27 Prozent, in Berlin sogar 28 Prozent. Trittin stellte klar, die Führungsfrage beantworte sich von selbst, sollten die Grünen bei künftigen Wahlen in diesen Ländern mehr Stimmen bekommen als die SPD. „Bis zur Wahl gibt es einen sportiven Wettbewerb“, sagte er, „dann guckt man, ob man eine Basis für eine gemeinsame Regierung hat, und dann stellt der Stärkere den Regierungschef, so einfach ist das.“
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles sagte: Die SPD werde sich jetzt nicht in einen „Kleinkrieg mit den Grünen verheddern“, sondern weiter selbstbewusst ihre Positionen beim Arbeitsmarkt oder der Gesundheit vertreten. Wo es Schnittmengen gebe, werde man mit den Grünen eng zusammenarbeiten. Nahles zeigte sich überzeugt, dass die SPD bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr gegenüber den Grünen überall „die Nase vor haben wird“.
Deshalb werde sich die Frage nicht stellen, eventuell als Juniorpartner in eine von den Grünen geführte Landesregierung einzutreten. Sie erinnerte daran, dass es im letzten Jahr einen ähnlich „Hype“ um den Aufschwung der FDP gegeben habe. Dieser habe sich aber schnell wieder verflüchtigt.
Der Höhenflug der Grünen ist nach Ansicht von Parteienforscher Karl-Rudolf Korte einer „Popularitätsblase“ geschuldet. Einen grundlegenden Wandel im Parteiensystem sehe er nicht, sagte der Politikwissenschaftler von der Universität Duisburg-Essen der Deutschen Presse-Agentur. Korte sprach von einer „geliehenen Macht der Grünen“, die „nicht richtig belastbar“ sei. Tatsächlich sei die Partei kaum in Regierungsverantwortung, betonte er. Derzeit sind die Grünen in Nordrhein-Westfalen, im Saarland sowie in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen an Koalitionen beteiligt.
Die Mittelschicht fühle sich in Volksparteien nicht mehr beheimatet. „Die Volksparteien sind Volkspartei-Ruinen“, sagte Korte. Davon profitierten vor allem die Grünen. „Das ist in der Wahrnehmung der Wähler eine Sympathieorganisation“, sagte Korte.