Bundeskanzlerin Merkel zeigt “großen Respekt“. Die letzte Entscheidung liegt bei Bundespräsident Wulff.
Frankfurt/Berlin. In einem bisher beispiellosen Schritt hat sich die Bundesbank von Thilo Sarrazin getrennt. Die Spitze der Zentralbank beantragte gestern bei Bundespräsident Christian Wulff die Entlassung ihres umstrittenen Vorstandsmitglieds. Zugleich wurden dem 65-Jährigen seine Geschäftsbereiche - Informationstechnologie, Risikocontrolling und Revision - mit sofortiger Wirkung aus der Hand genommen.
Damit zogen Bankchef Axel Weber und die übrigen vier Vorstände Konsequenzen aus den heftig kritisierten Äußerungen Sarrazins über muslimische Zuwanderer, deren mangelnde Integrationsbereitschaft - so seine These - auch biologisch begründet sei. Für Empörung hatte der SPD-Politiker und frühere Berliner Finanzsenator zudem mit der Aussage gesorgt, alle Juden teilten ein bestimmtes Gen. Später nannte Sarrazin diese Äußerung zwar eine "Dummheit", wollte sie aber inhaltlich nicht zurückziehen. Sarrazin hat mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" auf Anhieb Platz eins der Bestseller-Liste erobert.
Politiker aller Parteien warfen ihm vor, mit seinen Thesen das Ansehen der Bundesbank beschädigt zu haben. Das Votum des Bankvorstands fiel einstimmig aus. Allerdings steht das Recht der Abberufung allein dem Bundespräsidenten zu. Wulff kündigte an, den Antrag zu prüfen. Bis dahin werde er sich zu dem Fall nicht äußern. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte, sie habe "die unabhängige Entscheidung des Bundesbankvorstandes mit großem Respekt zur Kenntnis genommen".
Zuvor hatte sich mit ungewöhnlich deutlichen Worten auch der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Jean-Claude Trichet, eingeschaltet. "Als Bürger war ich entsetzt über diese Äußerungen, als Präsident der Europäischen Zentralbank habe ich volles Vertrauen in die Entscheidungen der Bundesbank", sagte Trichet in Frankfurt.
Die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer (CDU) sagte, die "Notbremse" wende Schaden von der Bundesbank und vom Ansehen Deutschlands in der Welt ab. SPD-Chef Sigmar Gabriel nannte den Antrag der Bank "eine konsequente Entscheidung". Sarrazins Berliner SPD-Kreisverband leitete am Abend ein Parteiausschlussverfahren ein. Die Grünen begrüßten die Bundesbank-Entscheidung ebenfalls. "Sarrazin ist als Repräsentant der Bundesbank nicht mehr tragbar", sagte Fraktionschefin Renate Künast. Linke-Parteichefin Gesine Lötzsch forderte, "dass Sarrazin keinen goldenen Handschlag bekommt".
Es gibt aber auch differenzierte Stimmen. Der jüdische Schriftsteller und Historiker Ralph Giordano sagte dem Abendblatt: "Sarrazin hat mit scharfer Feder das Thema Nummer eins der deutschen Innenpolitik, Migration/Integration, auf eine neue Ebene des öffentlichen Bewusstseins katapultiert. Und das wider eine Political Correctness, die es unverantwortlicherweise nur allzu lange behandelt hat wie eine multikulturelle Idylle mit kleinen Schönheitsfehlern, die durch sozialtherapeutische Maßnahmen behoben werden könnten."