Zahl befeuert Mindestlohn-Debatte. SPD-Politiker Olaf Scholz sieht Wirtschaftssystem bedroht
Berlin. Gigantische 50 Milliarden Euro hat es den Steuerzahler seit 2005 gekostet, die Niedriglöhne in Deutschland aufzustocken. Damit dient im Hartz-IV-System derzeit fast jeder dritte Euro dazu, niedrige Löhne aufzustocken, weil diese allein den Lebensunterhalt nicht sichern. Aus Sicht des Linkspartei-Vorsitzenden Klaus Ernst, der die Daten im Bundesarbeitsministerium abgefragt hat, ist das ein Skandal. "Die Bundesregierung blockiert seit Jahren den gesetzlichen Mindestlohn und verschwendet das Geld der Steuerzahler", kritisierte Ernst gegenüber der "Frankfurter Rundschau". Er forderte eine Untergrenze von zehn Euro pro Stunde. Führe man die ein, dann könne ein Gutteil der gewaltigen "Subventionierung des Niedriglohnsektors" eingespart werden, erklärte Ernst.
Handlungsbedarf sehen auch die Sozialdemokraten. "Die zunehmende Zahl von Arbeitnehmern, die ergänzend öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen, bedroht die Grundlagen unseres an Arbeit orientierten Wirtschaftsmodells und die öffentlichen Kassen", sagte der Hamburger SPD-Vorsitzende und stellvertretende Bundestagsfraktionsvorsitzende Olaf Scholz dem Hamburger Abendblatt. "Zu den Milliarden für die Aufstocker müssen ja noch die Milliarden entgangene Beiträge bei den Sozialversicherungen gerechnet werden, die andere Beitrags- und Steuerzahler ausgleichen müssen", fügte Scholz hinzu. Das lasse nur einen Schluss zu: " Zur Rettung der Funktionsprinzipien unserer Marktwirtschaft braucht Deutschland endlich einen flächendeckenden Mindestlohn."
Die Grünen schlossen sich dieser Forderung an. "Ein Mindestlohn ist der erste Schritt, um das Problem einzudämmen", sagte der Sozialexperte der Partei, Markus Kurth. Auch müssten die Zuverdienstregeln für Hartz-IV-Empfänger geändert werden, um Vollzeitstellen attraktiver zu machen. Die grüne Arbeitsmarktexpertin Brigitte Pothmer sprach von "skrupellosen Unternehmern", die ihren Arbeitnehmern Hungerlöhne zahlten.
Die Berechnungen der Linkspartei stützen sich auf Angaben des Bundesarbeitsministeriums, sie sind allerdings von den jeweiligen September-Werten hochgerechnet worden. Die Steigerung scheint besorgniserregend: Beliefen sich die Ausgaben für Hartz-IV-Bezieher, die zusätzlich zum Einkommen aus ihrer Erwerbstätigkeit noch Arbeitslosengeld II bezogen haben, 2005 noch auf "nur" etwa acht Milliarden Euro, so waren es im Jahr 2009 schon rund elf Milliarden Euro.
Die schwarz-gelbe Koalition lehnt die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ab. "Die Forderung der Linken geht an den Problemen der Menschen vorbei", sagte Johannes Vogel, der Arbeitsmarktexperte der FDP-Bundestagsfraktion. Vogel fügte hinzu, da ein gesetzlicher Mindestlohn das Problem nicht lösen könne - nur die wenigsten der rund 1,4 Millionen erwerbstätigen Hartz-IV-Bezieher arbeiten Vollzeit, etwa die Hälfte aller Aufstocker verdient weniger als 400 Euro im Monat - arbeite die Bundesregierung an einer Verbesserung der Zuverdienstmöglichkeiten, um deren "Brückenfunktion in Beschäftigung" zu stärken.