Mit Wulffs Wahl wollten Kanzlerin und Außenminister Geschlossenheit demonstrieren - und scheiterten. Das Regieren wird nun noch schwerer für sie werden

Berlin/Hamburg. Vielleicht ist es der Moment, in dem die Kanzlerin zum ersten Mal merkt, dass diese Wahl auch ein Angriff auf ihre Autorität ist. Angela Merkel spricht im Fraktionssaal der Unionsparteien zu den Wahlleuten. "Wir haben eine gemeinsame Verantwortung für die gemeinsamen politischen Ziele", sagt sie. "Wir sind eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten." Es ist gerade 45 Minuten her, als ihr Kandidat Christian Wulff im ersten Wahlgang scheiterte. Und Merkel spricht in einen Raum, in dem Dutzende Wahlleute ihrer Gemeinschaft nicht mehr folgen wollen. Sie sind in diesem Moment nicht mehr ihre Gleichgesinnten.

Die Kanzlerin kennt sie nicht. Die Abweichler sind anonym, die Wahl ist geheim. Doch dann bekommt der Widerstand gegen Merkel gleich mehrere Gesichter: Merkel dankt Wulff, dass er für einen zweiten Wahlgang zur Verfügung steht. Im Saal gibt es daraufhin ein lautes Gelächter, berichten Teilnehmer. Merkel reagiert ungehalten: Das sei gar nicht selbstverständlich, sagt sie. "Das ist zu würdigen. Dafür hat er Respekt verdient." Erst da gibt es Applaus.

Mit der Wahl von Christian Wulff zum Bundespräsidenten wollte Merkel einen Neustart nach neun Monaten, in denen die Beliebtheit von Schwarz-Gelb ständig schrumpfte. Es sollte ein Akt der Geschlossenheit werden. Doch die Wahl wurde ein Akt der Demontage. Brandenburgs früherer Innenminister und Ex-General Jörg Schönbohm (CDU) meint, früher habe man gewusst, "wo der Feind stand, heute ist man sich nicht mehr sicher". Dass dieser Feind in den Reihen der Liberalen zu suchen ist, weist FDP-Chef Guido Westerwelle weit von sich. Man stehe geschlossen hinter Wulff. Was nach einer Solidaritätsbekundung klingt, ist eine Spitze in Richtung Union: Folgt man Westerwelles Worten, müssen dort die Abweichler zu finden sein. Einige Liberale wie der hessische FDP-Chef Jörg-Uwe Hahn sticheln indes weiter: "Ein Neustart für die Bundesregierung ist das nicht." Merkels Standpauke und das Werben für ihren Kandidaten bringen nicht die erhoffte Wende. Selbst im zweiten Wahlgang erhält Wulff nur 615 Stimmen - acht weniger als für die absolute Mehrheit notwendig und 29 weniger, als die Koalition besitzt. Erst im dritten Wahlgang erhält er schließlich mit 625 Stimmen die absolute Mehrheit.

Noch wenige Wochen zuvor hatte CSU-Chef Horst Seehofer gesagt, jeder wisse, dass ein Scheitern Wulffs eine schwere Krise für die Kanzlerin und ihre Mannschaft bedeuten würde. Dass Merkel an diesem Tag überhaupt um den Sieg ihres Kandidaten bangen muss, ist das denkbar schlechteste Vorzeichen für eine Regierung, die noch zahlreiche entscheidende Reformen meistern muss. Keines dieser Projekte hatte Schwarz-Gelb bislang angefasst. Wichtige Gesetzesvorhaben verzögerte die Koalition bis nach der NRW-Wahl. Man stritt sich stattdessen heftig über Steuern und Gesundheit. Eigentlich wollte die Koalition nach ihrem Stolperstart nun endlich Tritt fassen. Erste Hoffnung schöpfte sie bei den Beratungen zur Konsolidierung des Gesundheitswesens. Sogar auf eine Neuordnung des Pharmasektors einigte sich die Regierung. Doch die wahre Arbeit steht der Regierung noch bevor: Im August berät das Kabinett das Haushaltsbegleitgesetz, mit dem die Sparbeschlüsse umgesetzt werden, im September dann muss der Haushalt 2011 durch den Bundestag gebracht werden. Nach der Sommerpause soll das Energiekonzept beschlossen werden, bei dem es um die umstrittene Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke geht.

Für solche Mammutprojekte benötigt eine Regierung stabile Mehrheiten. Sie braucht aber vor allem Vertrauen in den eigenen Reihen. Doch die Koalition ist weit entfernt von einem Akt der Geschlossenheit. Sie hätte ein Signal an Angela Merkel sein können, dass Union und FDP ihre Vorsitzenden in dieser schwierigen Zeit unterstützen. Auf dieses Signal haben Merkel und Westerwelle gestern vergeblich gewartet.