Für Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle rangiert das Grundgesetz vor der Euro-Rettung. Er ist ein unangenehmer Mahner für Merkel.
Karlsruhe/Berlin. Vor einem Jahr sagte Angela Merkel einmal, was sie wirklich über das Bundesverfassungsgericht denkt. Damals feierte das Verfassungsorgan mit dem höchsten Ansehen in Deutschland seinen 60. Geburtstag, die Kanzlerin hielt die Festrede in Karlsruhe. Sie hatte schon den Papst zitiert, die Väter und Mütter des Grundgesetzes erwähnt und allerlei Feierliches gesagt, als sie plötzlich einen Scherz wagte: Als "nine scorpions in a bottle" würden die Richter des Supreme Court der USA beschrieben, erzählte sie. Und bezog dies auf Deutschland, "um im Bild zu bleiben: Die Stiche der Skorpione treffen bisweilen auch die anderen Verfassungsorgane." Das Publikum, immerhin die Spitzen der Republik, lachte.
Heute lacht keiner mehr. Denn die Skorpione haben mal wieder zugestochen. Nachdem das Verfassungsgericht in der vergangenen Woche den Bundespräsidenten bat, die Gesetze zum Fiskalpakt und zum auf Dauer angelegten Euro-Rettungsschirm ESM nicht sofort zu unterzeichnen, kann Merkel kaum verhehlen, dass sie sich empfindlich getroffen fühlt.
Denn das monumentale Gesetzeswerk, das Ende der Woche mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag verabschiedet werden soll und Deutschland mit 190 Milliarden Euro Haftung bindet, ist Merkels Plan zur Rettung der kriselnden Gemeinschaftswährung. Sie hat es nicht nur SPD, Grünen und den Bundesländern abverhandelt, sondern auch noch den übrigen Europäern aufgezwungen: In 25 von 27 EU-Ländern wird der Fiskalpakt, der das Schuldenmachen begrenzen soll, ratifiziert - nur Deutschland braucht jetzt viel länger als geplant.
+++ Schulden steigen weiter +++
Das liegt an den 16 Skorpionen in Karlsruhe. Die werden repräsentiert von einem Mann, der eher gemütlich dreinblickt: Andreas Voßkuhle. Doch sobald der 48-jährige Präsident des Verfassungsgerichts zu formulieren beginnt, zeigt er tatsächlich seinen Stachel. "Verfassungsgerichte dienen nicht der Stärkung der Regierung", so beschrieb Voßkuhle jüngst in der "Zeit" die Aufgabe seines Hauses. "Wir dringen darauf, dass die Regeln, die wir uns im Grundgesetz für die Entscheidung wichtiger politischer Fragen gegeben haben, eingehalten werden, auch in der Krise." Es ist der letzte Teil des Satzes, der das Gift enthält.
Denn gerade in der Euro-Krise geriet das ansonsten fein austarierte Machtverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Bundesregierung aus der Balance. Seit seiner ersten Europa-Entscheidung im Jahr 1993 hat Karlsruhe die Frage, wie weit die europäische Integration mit dem Grundgesetz vereinbar ist, mit immer der gleichen Formel beantwortet: Die Verfassung sage Ja zu mehr Europa. Aber nur solange, wie ein Kern deutscher Staatlichkeit erhalten bleibe. Die Regierung habe weitgehende Gestaltungsfreiheiten, doch dürfe das Demokratieprinzip durch die Übertragung von Hoheitsrechten nach Brüssel nicht infrage gestellt werden. Das bedeutet: Der Bundestag als einziges unmittelbar vom Volk gewähltes Organ der Staatsleitung muss Befugnisse von substanziellem Gewicht behalten.
Statt das Parlament aber wie verlangt zu informieren und zu beteiligen, wurde es von der Kanzlerin bei der Euro-Rettung immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt. Im Urteil zum Zustandekommen des ESM heißt es deshalb tadelnd, die Bundesregierung sei verpflichtet, dem Parlament "nicht nur einen abschließend beratenen oder sogar beschlossenen Vertragstext" zuzuleiten. Sie müsse dem Bundestag vielmehr zum frühestmöglichen Zeitpunkt ihr vorliegende Zwischenergebnisse und Textstufen übermitteln.
Karlsruhe möchte, dass die europäischen Vertragswerke möglichst breit diskutiert werden. Die Kanzlerin dagegen möchte keine ausufernden Debatten, sondern freie Hand für ihre Verhandlungen in Europa. Das passt nicht zusammen, deshalb kracht es vernehmlich zwischen Berlin und Karlsruhe.
Dabei wollte Merkel den Gerichtspräsidenten im März sogar zum ersten Mann im Staate machen. Als Union und FDP nach dem Rücktritt Christian Wulffs nach einem Nachfolger für den Job des Bundespräsidenten suchten, kam Merkel auf die Idee, Voßkuhle zu fragen. Ihr Kalkül damals war gleichzeitig staatspolitisch, parteipolitisch und persönlich. Staatspolitisch sprach aus Merkels Sicht für Voßkuhle, dass er mit den entscheidenden Institutionen vertraut sei. Parteipolitisch war Voßkuhle ein Schachzug zur Einbindung der SPD, auf deren Vorschlag er Verfassungsrichter wurde. Persönlich versprach sich Merkel vom noch relativ jungen und in der Bevölkerung kaum bekannten Voßkuhle eine für sie günstigere als die klassische Repräsentanz durch ältere Herren: In der Ära Wulff war Merkel zum gefühlten realen Staatsoberhaupt der Deutschen aufgerückt - und hätte diese Position gern behalten.
Also rief sie Voßkuhle an - und holte sich eine Absage. Er wolle lieber bis 2020 Präsident des Verfassungsgerichts bleiben, sagt er nach wenigen Stunden Bedenkzeit. Der Höflichkeitsformel, das Angebot sei eine "sehr große Ehre", ließ er eine neuerliche Spitze folgen: Sein Gericht stehe gerade im Zuge der Europäisierung weiterhin vor großen Entscheidungen: "Da geht der Kapitän nicht vorzeitig von der Brücke." Was er gemeint haben könnte: Die nächste Entscheidung Karlsruhes steht bereits vor der Tür: die Prüfung der Verträge zu Fiskalpakt und ESM. Und nicht wenige Auguren prophezeien, dass Voßkuhle und seine Mitstreiter es diesmal nicht bei Ermahnungen zu einer Einbeziehung des Bundestags belassen könnten, sondern dass sie die Übertragung von Teilen der Haushaltsautonomie des Parlaments als Eingriff in den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität bewerten. Dann wäre die merkelsche Rettungspolitik gescheitert. So weit ist es noch nicht. Noch kann die Kanzlerin sich das Gericht sogar zunutze machen. Denn in Europa taugen die Skorpione aus Karlsruhe ironischerweise als Waffe Merkels. Denn immer wieder zieht sich die deutsche Regierungschefin in Verhandlungen darauf zurück, auf einem Punkt beharren zu müssen, weil sie sonst Probleme mit ihrem Verfassungsgericht bekomme.
Der neue französische Präsident François Hollande, der so viel in Europa anders machen will, hat die roten Roben auch schon kennengelernt. Beim G20-Treffen der mächtigsten Staats- und Regierungschefs vergangene Woche in Mexiko nahm er die Kanzlerin beiseite, um sich erklären zu lassen, warum Deutschland ESM und Fiskalpakt nun doch später verabschieden werde. Anschließend, so wird kolportiert, habe Hollande den Kopf geschüttelt und ironisch gefragt: "Die Deutschen lieben ihre Gerichte, nicht?"