Kosten für Arbeitsunfähige explodieren. Verbraucherschützer fordern mehr Rechte für Patienten gegenüber den Versicherungen
Hamburg. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für das Krankengeld sind sprunghaft angestiegen. Im Jahr 2010 waren es 7,8 Milliarden Euro - 2,1 Milliarden Euro mehr als noch fünf Jahre zuvor. Kein Ausgabenposten hat nach Zahlen des Gesundheitsministeriums einen höheren Zuwachs bei den Kosten der Krankenkassen. Die Zahlung an die Versicherten wird fällig, wenn ein Versicherter länger als sechs Wochen arbeitsunfähig ist. Und deshalb argwöhnen die Krankenkassen, dass beim Krankengeld häufig Missbrauch im Spiel ist. Denn mit dem Krankengeld lässt sich der zwölf Monate andauernde Bezug von Arbeitslosengeld I verlängern, indem man arbeitsunfähig geschrieben wird. Außerdem kann man eine Periode bis zum Ruhestand überbrücken, ohne dass man Kürzungen bei der Rente (Abschläge) hinnehmen muss.
Das sind die gängigen Tricks, heißt es bei den Kassen. Sie haben ihre Fallmanager geschult, um die schwarzen Schafe unter Druck zu setzen. Doch der Verdacht gegen die eigenen Versicherten ist zumeist unbegründet. So ging es auch Christoph G. (Name geändert). Der Angestellte litt unter einem Burn-out, der auch in einer Klinik behandelt wurde. Das Krankengeld von der Krankenkasse ersetzte nach sechs Wochen Auszeit vom Job G.s Gehalt zu 70 Prozent. G. sollte über mehrere Monate langsam in seinen Job zurückkehren und die Arbeitszeit stufenweise steigern. So der Therapieplan.
Allerdings platzte in die Wiedereingliederung ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse, dass G. nach Aktenlage wieder gesund sei. Eine Kassen-Fallmanagerin rief G. an und forderte ihn auf, in einigen Tagen wieder arbeiten zu gehen oder sich arbeitslos zu melden. G. spricht von einem "Schock-Anruf". Der Arzt jedoch stufte G. als "nicht voll arbeitsfähig" ein. Der Versicherte forderte ein Zweitgutachten von der Kasse. Das kam plötzlich zum gegenteiligen Ergebnis als das erste.
In Internetforen diskutieren Betroffene ihre Fälle und laden sogar Schreiben ihrer Versicherer hoch. Dabei wird immer wieder deutlich: Die Kassen üben Druck auf ihre Versicherten aus. G. verklagt nun seine Kasse. Denn nach einem Urteil des Landessozialgerichts Darmstadt ist der Zahlungsstopp beim Krankengeld allein aufgrund der Aktenlage verboten. Das grenze an Willkür, urteilten die Richter. Und die dramatische Zunahme der Zahl psychischer Erkrankungen in Deutschland - vor allem in Hamburg und Schleswig-Holstein - hat den Trend verstetigt. Burn-out und Depressionen bei Arbeitnehmern und Arbeitslosen nehmen zu. Es gibt nicht genügend Behandlungsplätze, weshalb die Wartezeiten sich verlängern und oft die Krankenkassen mit Krankengeld einspringen müssen. Im Schnitt 80 Tage ist ein Mensch arbeitsunfähig, wenn bei ihm eine chronische Depression erkannt wurde. Kein Wunder, dass die Kassen über hohe Ausgaben klagen und die Fälle am liebsten abschieben wollen.
Gerne auch in die Rentenversicherung. Dort werden für Milliarden Euro jedes Jahr Reha-Maßnahmen finanziert. Denn "Reparatur" ist noch immer günstiger als Frührente. Bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sind psychische Leiden mit 40 Prozent bereits die häufigste Diagnose.
Bei der Unabhängigen Patientenberatung in Hamburg sind etliche Beschwerden über das Gebaren der Krankenkassen beim Krankengeld aufgelaufen. "Es ist spürbar mehr geworden", sagte eine Sprecherin dem Abendblatt. Viele Streitigkeiten landen vor dem Sozialgericht. In Hamburg machen Klagen zum Krankengeld "einen erheblichen Teil der Klagen zum Krankenversicherungsrecht aus", sagte ein Gerichtssprecher. Genaue Zahlen gibt es aber nicht.
Der Bundesverband der Verbraucherzentralen hat ebenfalls das Drängen der Fallmanager gegenüber dauerkranken Versicherten wahrgenommen und rät: "Es ist nicht rechtens, dass die Krankenkasse das Krankengeld einfach verweigert oder Patienten in die Frühverrentung drängt", sagte Ilona Köster-Steinebach, Gesundheitsexpertin der Verbraucherzentrale. "Man darf sich auf keinen Fall einschüchtern lassen." Weil sie oft alt, krank oder behindert sind, seien Patienten in Konflikten mit ihren Kassen häufig überfordert. Die Verbraucherzentrale fordert deshalb eine Erweiterung des geplanten Patientenrechtegesetzes. Köster-Steinebach sagte: "Das Auslaufen des Krankengeldes sollte nicht nur nach Aktenlage entschieden werden. Der Medizinische Dienst müsste den Patienten anhören und auf die Möglichkeit zum Widerspruch hinweisen." Es sei ein Unding, dass das Patientenrechtegesetz die Beziehung zwischen Arzt und Patient ausführlich regele, die zwischen Versicherten und Kassen jedoch kaum.
Zwischen 2004 und 2010 haben sich die Krankheitstage aufgrund psychischer Leiden verdreizehnfacht, haben die Betriebskrankenkassen festgestellt. Über den Finanzausgleich wird geregelt, dass eine Kasse mit besonders vielen kranken Versicherten nicht deshalb pleitegehen kann. Allerdings hat das System einen Webfehler. "Für das Krankengeld", sagt Verbraucherschützerin Köster-Steinebach, "gibt es kein Geld aus dem Gesundheitsfonds."