Den Parteien bleiben wenige Tage für eine Nominierung. Ein Kandidat des schwarz-gelben Lagers hätte die Mehrheit in der Bundesversammlung
Hamburg. Das Grundgesetz lässt keine Hängepartie zu. Bis zum 30. Juni wird es in Deutschland ein neues Staatsoberhaupt geben. Spätestens an diesem Tag muss die Bundesversammlung zusammentreten, um einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für Horst Köhler zu wählen. Die Parteien müssen sich also schnell entscheiden, wen sie zum neuen Staatsoberhaupt nominieren wollen. Offiziell war von einer Hektik in dieser Frage gestern wenig zu spüren: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) weigerte sich, auch nur im Ansatz über einen Nachfolger für Horst Köhler zu sprechen. Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel verweigerte sich jeglichen Spekulationen. Doch im Hintergrund war die Suche nach dem neuen Bundespräsidenten längst angelaufen. Weil die Regierung in der Bundesversammlung auf eine satte Mehrheit bauen kann, wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit einen eigenen Kandidaten stellen. Nur ein Favorit hat sich offenbar noch nicht herauskristallisiert.
Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der 2005 bereits als Kandidat der Union galt und auf Druck der FDP Horst Köhler weichen musste, gehört wieder zu den genannten Namen innerhalb der Union. Doch der 67-Jährige hatte zuletzt mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Auch heißt es in der Union, in einer Phase der beginnenden Haushaltskonsolidierung könne sich die Regierung keinen Finanzminister auf Abruf leisten.
In der Riege der CDU-Ministerpräsidenten gilt Christian Wulff als chancenreich. Der niedersächsische Ministerpräsident kann auf seine Beliebtheit zählen. Der Regierungschef, dessen Zurückhaltung auffällt, gilt nach dem angekündigten Rücktritt des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch neben Bundeskanzlerin Angela Merkel als einzige herausragende Persönlichkeit in der CDU. Für das Schloss Bellevue war er erst im April von einigen Hinterbänklern aus der Union ins Gespräch gebracht worden. Wulff äußerte sich gestern zurückhaltend. "Es ist einfach ein großer Fehler, wenn man Namen ins Gespräch bringt oder Namen kommentiert, weil es dem Amt des Bundespräsidenten schadet", sagte er. "Dafür bewirbt man sich, und dazu äußert man sich nicht, und das schließt man auch nicht aus." Eine Absage war dies zumindest nicht.
Eine Nominierung von Jürgen Rüttgers käme der CDU nur strategisch entgegen. Selbst in der CSU heißt es, ein eleganter Abgang des Regierungschefs würde die Lage in Nordrhein-Westfalen derart entspannen, dass einer CDU-geführten Großen Koalition eigentlich nichts mehr im Wege stehen dürfte. Ob die Union aber einen Ministerpräsidenten nach einer schweren Wahlniederlage ins höchste Amt im Staate befördert, darf bezweifelt werden. Zum erweiterten Kandidatenkreis der CDU gehört auch Bundestagspräsident Norbert Lammert, dessen Amtsführung über Parteigrenzen hinweg geschätzt wird. Unter den Unions-Frauen gelten vor allem Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, aber auch Bildungsministerin Annette Schavan als denkbare Kandidatinnen. Schavan war bereits 2004 ins Spiel gebracht worden.
In der CSU hingegen scheint die interne Suche nach einer Nominierung eher zaghaft angelaufen zu sein. Noch nie, so war gestern als Argument zu hören, sei ein Christsozialer in Deutschland Bundespräsident gewesen. Bei der Kandidatenfrage fiel der Name des Ex-Ministerpräsidenten Edmund Stoiber. Auch Ex-Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier besitzt ein CSU-Parteibuch. Da auch mit Roman Herzog ein früherer Verfassungsrichter Bundespräsident war, wäre der Name Papiers keine Überraschung. Ein Präsidiumsmitglied der Partei sagte dem Abendblatt dagegen unvermissverständlich: "Bei uns sehe ich wirklich niemanden."
Auch in FDP-Kreisen wird diskutiert, ob der nächste Bundespräsident nicht aus der FDP kommen sollte. Einziger Kandidat wäre vermutlich aber Ex-Parteichef Wolfgang Gerhardt. Der jedoch hatte zuletzt Parteichef Guido Westerwelle öffentlich Ratschläge erteilt. Es gilt als unwahrscheinlich, dass Westerwelle ihn nominieren würde. In FDP-Kreisen war man sich zumindest sicher, dass es keinen Anlass gebe, mit der SPD gemeinsam einen Kandidaten als große Konsenslösung zu bestimmen. Jünger solle er sein als die Vorgänger, hieß es. Und Wolfgang Schäuble werde man wohl erneut zu verhindern wissen.
Auf Oppositionsseite stehen SPD, Grüne und Linke nach der Wiederwahl Köhlers vor gut einem Jahr erneut vor der Frage, ob sich die Parteien auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen können. Die SPD hatte 2009 die Professorin Gesine Schwan ein zweites Mal ins Rennen geschickt. Eine dritte Kandidatur Schwans gilt als nahezu ausgeschlossen. Doch auch bei den Sozialdemokraten gibt es offensichtlich noch keine Persönlichkeit, die favorisiert wird.
Als erster prominenter SPD-Politiker wagte sich der neue niedersächsische SPD-Chef Olaf Lies aus der Deckung und brachte Ex-Bischöfin Margot Käßmann ins Spiel. "Nun ist es an der Zeit, dass jemand, der die Sorgen und Nöte der Menschen fest im Blick hat, wie zum Beispiel Margot Käßmann, dieses Amt ausfüllt", sagte Lies. Ein Gedanke, der in seiner Partei Anklang fand. "Olaf Lies hat völlig recht, dass Margot Käßmann eine exzellente Wahl wäre", sagte SPD-Präsidiumsmitglied Ralf Stegner dem Abendblatt. Er warnte aber vor zu schnellen Vorschlägen: "Wir haben aber in der SPD-Führung vereinbart, dass es klug ist, vor einem öffentlichen Vorschlag sorgfältig die Lage zu analysieren. Schwarz-Gelb hat wohl noch eine Mehrheit in der Bundesversammlung, und wir sollten auch nicht Chancen von Kandidaturen durch vorzeitige öffentliche Debatten minimieren."
Grünen-Vorsitzender Cem Özdemir warb für eine Kandidatur, die von allen Parteien im Bundestag unterstützt werde. "Wir brauchen in dieser ernsten Situation jetzt eine Persönlichkeit an der Spitze des Staates, die über die Partei- und Lagergrenzen hinweg unterstützt und auch in der Bevölkerung breit getragen wird. Eine Persönlichkeit, die auch wirklich bereit ist, die mit diesem Amt verbundene Verantwortung zu tragen und auszufüllen", sagte Özdemir dem Abendblatt. "Angela Merkel sollte deshalb auf die im Bundestag vertretenen Parteien zugehen und sich ernsthaft für einen möglichst breit getragenen Vorschlag einsetzen", forderte der Grünen-Chef.
Schleswig-Holsteins Grünen-Fraktionschef Robert Habeck wünschte sich von seiner Partei dagegen mehr Selbstbewusstsein in der Kandidatenfrage. "Ich würde mich freuen, wenn sich meine Partei dazu durchringt, einen eigenen Kandidaten aufzustellen", sagte Habeck dem Abendblatt.
Die Linkspartei hingegen wollte sich gestern noch nicht auf eine Strategie festlegen. Fraktionschef Gregor Gysi sagte: "In der grundgesetzlich festgelegten kurzen Zeit bis zur Neuwahl wird sich zeigen, ob die SPD nun wie in NRW sich eher auf Union und FDP orientiert oder auf die Linke zugeht." Mit einem eigenen Kandidaten wie 2009 wird die Linke vermutlich erst einmal warten. In der Partei herrscht darüber Einigkeit, dass die Kandidatur des Schauspielers Peter Sodann der Partei vor einem Jahr eher geschadet als genützt hatte.
Die Linkspartei hat zumindest großes Interesse an einem gemeinsamen Kandidaten mit SPD und Grünen, ist zu hören. So wie 2004 CDU und FDP aus der Opposition heraus eine mit der Präsidentenwahl eine Art Regierungstestlauf veranstalteten, so könne ein gemeinsames Vorgehen von Rot-Rot-Grün dieselbe Wirkung entfalten und als Probe für die Bundestagswahl 2013 gelten.