Nikolaus Schneider war glücklich in seiner Rolle als Stellvertreter der EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann. Doch dann wurde Bischöfin Margot Käßmann Ende Februar stark alkoholisiert am Steuer ihres Dienstwagens erwischt. Ihr Rücktritt vom Spitzenamt der Protestanten war gleichzeitig die unverhoffte Beförderung des Präses der rheinischen Kirche. Das Abendblatt traf den 62 Jahre alten, neuen EKD-Chef im Düsseldorfer Landeskirchenamt.
Hamburger Abendblatt: Herr Präses, seit gut einem Monat sind Sie amtierender Ratsvorsitzender der EKD. Wie fühlt es sich an, nur ein Ersatz zu sein?
Nikolaus Schneider: Ich bin nicht nur Ersatz. Ich bin jetzt Ratsvorsitzender, und als solcher fühle ich mich auch.
Hamburger Abendblatt: Sie haben das Amt nie gewollt. Haben Sie sich inzwischen daran gewöhnt?
Nikolaus Schneider: Ich war als Stellvertreter von Margot Käßmann sehr zufrieden. Ich bin noch dabei, mich an das Amt zu gewöhnen. Man wächst in so etwas hinein.
Hamburger Abendblatt: Was tun Sie, um aus dem großen Schatten Ihrer Vorgängerin herauszutreten?
Nikolaus Schneider: Ich habe mein eigenes Profil. Mir geht es nicht darum, mich von anderen abzusetzen. Ich bin mit vielen Dingen völlig einverstanden, die meine Vorgänger Margot Käßmann und Wolfgang Huber vertreten haben. Ich sehe mich da in einer großen Kontinuität.
Hamburger Abendblatt: Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie von Käßmanns Trunkenheitsfahrt erfuhren?
Nikolaus Schneider: Ich konnte es mir gar nicht vorstellen. Ich habe Frau Käßmann immer als eine sehr disziplinierte Frau erlebt. Es hat mich völlig überrascht.
Hamburger Abendblatt: Für ihren konsequenten Rücktritt hat Käßmann sehr viel Lob erhalten. Wurde nicht zu wenig über ihre Schuld gesprochen?
Nikolaus Schneider: Die Schuld ist deutlich benannt worden, auch von ihr selbst. Radikaler als sie kann man damit eigentlich nicht umgehen. Sie ist ja nicht nur als EKD-Ratsvorsitzende, sondern auch als Bischöfin zurückgetreten.
Hamburger Abendblatt: Sie hat aber auch mit ihrer Alkoholfahrt Menschen in Gefahr gebracht.
Nikolaus Schneider: Ganz klar. Das ist inakzeptabel. Aber genau deswegen reden wir ja nicht von Fehler, sondern von Schuld. Das ist eine ganz andere Dimension. Aber gerade Ostern zeigt ja, dass Gott uns trotz aller menschlicher Schuld Neuanfänge ermöglicht. Einen solchen Neuanfang wird es auch für Margot Käßmann geben.
Hamburger Abendblatt: Wie soll der Neuanfang aussehen? Einfache Gemeindepastorin auf dem Land?
Nikolaus Schneider: Rein theoretisch ist eine normale Pastorenstelle für sie möglich, aber realistisch ist das nicht. Ich glaube, sie wird eine Position anstreben, in der sie weiter in den ihr wichtigen Themen arbeiten kann: Ökumene, Menschenrechtsfragen und Entwicklungspolitik. Ich kann mir auch vorstellen, dass sie ihre Erfahrungen in der universitären Lehre umsetzen wird. Ich bin sicher, ihre Stimme wird weiterhin zu hören sein.
Hamburger Abendblatt: Beim Ökumenischen Kirchentag im Mai in München will Käßmann ihr Comeback feiern. Sie treten dort auch auf. Was glauben Sie, wer mehr Aufmerksamkeit bekommt?
Nikolaus Schneider: Das ist doch völlig klar.
Hamburger Abendblatt: Ist es nicht problematisch, wenn der EKD-Ratsvorsitzende dort weniger Beachtung findet?
Nikolaus Schneider: Nein, damit habe ich keine Probleme. Nach allem, was passiert ist, ist es ganz natürlich, dass die Öffentlichkeit sehen will, wie Frau Käßmann in Erscheinung tritt.
Hamburger Abendblatt: "Nichts ist gut in Afghanistan." Würden Sie sich diesen Käßmann-Satz auch zu eigen machen?
Nikolaus Schneider: Dieser Satz war zugespitzt und hat eine wichtige Wirkung entfaltet. Insofern war er gut. Ich selbst würde es anders sagen: Der Konflikt in Afghanistan ist aus dem Ruder gelaufen. Die Legitimation des Bundeswehr-Einsatzes ist äußerst brüchig geworden. Und wir laufen Gefahr, dass der Einsatz völlig seine Legitimation verliert.
Hamburger Abendblatt: Sollte die Politik endlich so ehrlich sein und das Wort Krieg in den Mund nehmen?
Nikolaus Schneider: Jetzt hat man ja mit "kriegsähnlicher Zustand" eine Formulierung gefunden, die mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Wenn es die Politik nicht deutlich sagt, dann sagen wir es als Kirche: Was in Afghanistan passiert, ist Krieg. Wir müssen aufräumen mit der Selbsttäuschung unserer Gesellschaft, die die Bundeswehr lange als besseres Technisches Hilfswerk gesehen hat, die Brücken baut, Brunnen bohrt und Wasserleitungen legt. Natürlich tut sie das auch, aber tatsächlich geht es darum, den zivilen Wiederaufbau militärisch zu sichern. Dabei wird man beschossen, man schießt zurück, und man tötet Menschen.
Hamburger Abendblatt: Wie lange sollen die deutschen Truppen dort noch bleiben?
Nikolaus Schneider: Deutschland darf nicht zu so etwas wie einem langjährigen Besatzer werden. Das wäre eine fatale Entwicklung. Es gibt einen entscheidenden Impuls der USA für eine Exit-Strategie. In deren Windschatten muss sich auch für uns eine Abzugsperspektive ergeben.
Hamburger Abendblatt: Sie wollen selbst bald nach Afghanistan reisen. Haben Sie Angst vor dem Land?
Nikolaus Schneider: Direkte Angst habe ich nicht. Eher Gottvertrauen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch die Bundeswehr gut auf mich aufpassen wird. Ich bin vor allem neugierig. Aber natürlich gibt es ein Restrisiko.
Hamburger Abendblatt: Herr Schneider, in Deutschland regiert eine christlich-liberale Koalition. Ist die christliche Prägung der Politik noch erkennbar?
Nikolaus Schneider: Die Politik hat in manchen Bereichen ihre christliche Prägung verloren. Ich fürchte zum Beispiel, dass die Bundesrepublik als Sozialstaat nicht mehr gewünscht und nicht mehr gefördert wird.
Hamburger Abendblatt: Handelt FDP-Chef Guido Westerwelle noch christlich, wenn er den Bezug von Hartz IV mit spätrömischer Dekadenz in Verbindung bringt?
Nikolaus Schneider: Das ist für meine Begriffe nur schwer mit einem christlichen Wertekodex zusammenbringen. Ich möchte kein Urteil über den FDP-Chef fällen, lieber möchte ich mit Herrn Westerwelle persönlich über den Sozialstaat diskutieren.
Hamburger Abendblatt: Braucht der Sozialstaat Deutschland höhere Hartz-IV-Sätze?
Nikolaus Schneider: Unsere Experten der Diakonie sagen: Die Hartz-IV-Sätze müssen steigen, aber nicht exorbitant. Die Kosten werden uns also nicht um die Ohren fliegen. Eine Steigerung der Sätze ist dennoch nötig, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder.
Hamburger Abendblatt: Wir feiern an diesem Wochenende Ostern, das wichtigste Kirchenfest überhaupt. Was kann uns zwischen Ostereiern und Schokoladenhasen die Ostergeschichte überhaupt noch sagen?
Nikolaus Schneider: Die ursprüngliche Osterbotschaft lautet ja: Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Ostern sagt, das Leben ist stärker als der Tod. An Ostern können wir einen neuen Blick auf unser Leben gewinnen.
Hamburger Abendblatt: Was ist dann die Osterbotschaft 2010?
Nikolaus Schneider: Die Botschaft für neue Lebensperspektiven kann ganz unterschiedlich lauten. Zum Beispiel: Wir können eine Lösung für Afghanistan finden. Oder wir können einem Menschen, der von Hartz IV lebt, sagen: Dein Leben ist nicht in Stein gemeißelt, dein Leben ist veränderbar, du hast Zukunft.
Hamburger Abendblatt: Ostern, das ist auch Jesus am Kreuz. Hat das Kreuz als christliches Symbol noch die Wirkung, die es haben sollte?
Nikolaus Schneider: Ich glaube schon. Das Kreuz erinnert uns daran, dass wir Gott nie verlieren, auch wenn er uns fern erscheint. Er trägt mich auch dann, wenn ich mich selbst nicht mehr tragen kann. Dafür steht das Kreuz. Und diese fundamental wichtige Botschaft, die das Kreuz symbolisiert, müssen wir den Menschen weitersagen.
Hamburger Abendblatt: Dennoch verschwindet das Kreuz immer mehr aus den öffentlichen Räumen.
Nikolaus Schneider: Ich wünsche mir, dass das Kreuz zu sehen ist und dass spürbar wird, wofür es steht - auch beispielsweise in Gerichten. In Düsseldorf wurden die Kreuze in den Sälen des Gerichtsneubaus nicht mehr aufgehängt. Das bedaure ich, denn das Kreuz sagt dem Richter, dass er keine endgültigen Urteile fällt. Und es sagt dem Angeklagten, dass eine Verurteilung nicht das letzte Wort ist.
Hamburger Abendblatt: Gehört das Kreuz auch in Schulklassen und Ministerien?
Nikolaus Schneider: Ganz klar gehört das Kreuz mitten in unsere Gesellschaft. Religion ist keine Privatsache. Religion wirkt öffentlich und hat etwas zu sagen. Religion gehört in den öffentlichen Raum.
Hamburger Abendblatt: Die katholische Kirche steckt mit ihrem Missbrauchsskandal tief in der Krise. Warum hören wir kaum etwas über Missbrauch in der evangelischen Kirche?
Nikolaus Schneider: Auch bei uns gab es Missbrauch. Wir haben allein in der rheinischen Landeskirche seit 2003, als wir ein geregeltes Verfahren für den Umgang damit eingeführt haben, von 40 Fällen erfahren. Vielleicht ist für die Menschen daran erkennbar, dass wir offener damit umgehen. Auch die Frage, wie wir über Sexualität reden und mit Sexualität umgehen, spielt da eine Rolle.
Hamburger Abendblatt: Heißt das, die katholische Kirche sollte den Sinn des Zölibats diskutieren?
Nikolaus Schneider: Die Stimmen in der katholischen Kirche, die diese Diskussion wollen, mehren sich. Ich kann nur für unsere Kirche sagen: Verheiratete Pastorinnen und Pastoren tun unseren Gemeinden gut. Eine Pastorenfamilie tut dem gesamten Gemeindeleben gut. Aber ich will nicht verhehlen, dass die Abgrenzung zwischen Familienleben und Gemeindearbeit mitunter auch Probleme mit sich bringt. Und Frauen im Pastorenamt tun der Kirche an sich gut.
Hamburger Abendblatt: Hand aufs Herz. Haben Sie sich dennoch mal nach einem Papst für die Protestanten gesehnt?
Nikolaus Schneider: Der Papst ist definitiv medientauglicher als die evangelische Kirche. Aber wir sind nicht neidisch. Theologisch gesehen haben wir Protestanten ja einen Vorteil. Wir können behaupten: Wir sind alle Papst.