Weg mit der Vermögensprüfung, her mit mehr Mindestlohn: Parteichef Sigmar Gabriel stellt Reform der Reform vor.
Berlin. In Nordrhein-Westfalen wird am 9. Mai gewählt, und weil es da mit Blick auf die Bundesratsmehrheit um die Wurst geht, ist der Wahlkampf vor allem in Berlin schon voll entbrannt. Und wenn es daran überhaupt noch einen Zweifel gegeben hätte, dann beseitigte ihn der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel gestern dadurch, dass er erst einmal auf seinem FDP-Kollegen Guido Westerwelle herumhackte, bevor er zum Eigentlichen überging: zur Kehrtwende in der Hartz-IV-Politik, die sich die Sozialdemokraten jetzt auf die Fahnen geschrieben haben. Eine Reform der Reform gewissermaßen, die Gerhard Schröder vor sieben Jahren mit der berühmt-berüchtigten Agenda 2010 in Gang gesetzt hatte. Teile dieser Reform hätten "zu erheblicher Verunsicherung beigetragen", sagte der oberste Sozialdemokrat, bevor er im Willy-Brandt-Haus gemeinsam mit Ex-Arbeitsminister Olaf Scholz die Hartz-IV-Korrekturen skizzierte, die die SPD gerne durchsetzen würde, wenn sie könnte.
Tatsächlich gehört die Sozialpolitik zu den Schlachtfeldern, auf denen der Wahlkampf um das zurzeit von Union und FDP regierte Nordrhein-Westfalen ausgetragen wird. Und deshalb hat sich das SPD-Präsidium gestern darauf geeinigt, von den Arbeitsmarktreformen aus der Zeit der rot-grünen Bundesregierung ein großes Stück abzurücken. Übrigens unter dem Beifall des Alt-Linken Ottmar Schreiner, den man eigens zur Präsidiumssitzung eingeladen hatte. Abends stellte die SPD-Spitze ihre Ideen bereits dem Gewerkschaftsrat vor.
Im Kern laufen sie auf höhere Leistungen für Erwerbslose sowohl beim Arbeitslosengeld I als auch im Hartz-IV-System hinaus. Man wolle "die Lebensleistung eines jeden" respektieren, erklärte Gabriel dazu. Und Scholz meinte, Arbeit sei "die wichtigste soziale Kategorie unseres Zusammenlebens", weil sie unsere Gerechtigkeitsvorstellungen und Wertevorstellungen berühre.
Zu den zentralen Punkten des SPD-Entwurfs, der in den kommenden Monaten an der Basis diskutiert und auf einem Bundesparteitag im September verabschiedet werden soll, gehört die von der nordrhein-westfälischen SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft angeregte Schaffung eines "sozialen Arbeitsmarktes" mit 200 000 staatlichen Beschäftigungsverhältnissen. Dafür will die SPD drei Milliarden Euro aus Steuermitteln lockermachen. Außerdem soll es das Arbeitslosengeld I zwölf Monate länger als bisher geben, wenn sich Erwerbssuchende weiterqualifizieren. Für jene, die ins Arbeitslosengeld II fallen und damit von Hartz IV leben müssen, soll der Übergang großzügiger abgefedert werden. Scholz zeigte sich optimistisch, dass sich diese Neuregelungen durch sinkende Arbeitslosenzahlen selbst finanzieren könnten. Und er geht davon aus, dass der von seiner Partei angestrebte generelle Verzicht auf eine Vermögensprüfung der Hartz-IV-Empfänger den Steuerzahler überhaupt nichts kosten würde. Die habe ohnehin mehr Personalkosten als Einsparungen bewirkt.
Parteichef Gabriel sprach davon, dass der deutsche Arbeitsmarkt "wieder in Ordnung gebracht" werden müsse. Er stellte sich hinter den von den Gewerkschaften geforderten höheren Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde und verwies dabei auf die ab 2011 geltende Freizügigkeit auf dem EU-Arbeitsmarkt, die zu noch mehr Dumpinglöhnen führen werde. Der Leitsatz der SPD laute: "Sozial ist, was Arbeit schafft, von der man leben kann."
Bei der Union stießen die SPD-Vorschläge sofort auf Ablehnung. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärte, die Korrekturvorschläge der Sozialdemokraten würden das Sozialsystem durcheinanderbringen. Wenn man auf eine Vermögensprüfung bei Hartz-IV-Empfängern verzichte, könnten Besitzer von sieben, acht Häusern Hartz IV beantragen. "Das wäre der absolute Irrsinn!" Bei der von der SPD vorgeschlagenen Schaffung eines "sozialen Arbeitsmarktes" handele es sich ursprünglich um eine Idee der Linkspartei, sagte Merkel.