Die Attacken des Vizekanzlers überraschen nicht nur die Bundeskanzlerin, sondern auch die eigene Partei. Westerwelle will keine Silbe zurücknehmen.
Hamburg. Fast scheint es, als habe Guido Westerwelle urplötzlich die Nase voll von ständiger Diplomatie und der gebotenen Zurückhaltung des Außenminister-Daseins. Wie entfesselt schießt er in diesen Tagen eine rhetorische Salve nach der anderen in die irritierte Öffentlichkeit. Seit der FDP-Vorsitzende am vergangenen Sonntag führende Liberale zum Krisentreffen in die Parteizentrale rief und dort dem Vernehmen nach seinen Frust über schlechte Umfragewerte und den Zustand der Koalition lautstark ablud, hat Westerwelle höchstpersönlich auf Angriff geschaltet. Und das mit einem seiner Lieblingsthemen, dem angeblichen Sozialmissbrauch in Deutschland.
Kaum hatten die Karlsruher Richter in ihrem Hartz-IV-Urteil die Bundesregierung aufgefordert, die Regelsätze für Arbeitslose und ihre Familien neu zu berechnen, hatte Westerwelle die Vorlage für seinen ersten innenpolitischen Impuls seit Monaten gefunden. Zuerst echauffierte er sich in einem Gastbeitrag für die "Welt" über die Sorglosigkeit im Umgang mit dem Leistungsgedanken und die Missachtung der Mittelschicht, indem er schrieb: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein." Dann wiederholte er in der "Passauer Neuen Presse", dass die Diskussion über das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts "sozialistische Züge" trage.
Keine Silbe habe er von seiner Kommentierung zurückzunehmen, betonte er. "Wenn man in Deutschland schon dafür angegriffen wird, dass derjenige, der arbeitet, mehr haben muss als derjenige, der nicht arbeitet, dann ist das geistiger Sozialismus", führte er noch aus und bediente sich bildhafter Vergleiche: Kleine und mittlere Einkommen dürften nicht länger "die Melkkühe der Gesellschaft" sein. Und: "Für viele Linke ist Leistung ja beinahe eine Form von Körperverletzung. Dagegen wehre ich mich." Am Freitag ließ er die Öffentlichkeit wissen, er denke nicht daran, sich zu entschuldigen. "Ich spreche die Sprache, die verstanden wird", begründete er seine Wortwahl.
Nach Westerwelles Meinung darf auch ein Außenminister zwischendurch mal nonchalant den staatstragenden Ballast seines Amtes abwerfen und wieder FDP-Chef pur sein. Die Bundeskanzlerin sieht dies offenbar nicht so. Sie ließ ihre Vize-Regierungssprecherin Sabine Heimbach ausrichten, dass das "sicherlich weniger der Duktus der Kanzlerin" sei. "Die Kommentierung seitens des FDP-Vorsitzenden" - Heimbach vermied bewusst Westerwelles Amtsbezeichnungen Außenminister oder Vizekanzler - "ist eine Stellungnahme innerhalb einer parteipolitischen Diskussion". Die Kanzlerin plane nicht, sie zu kommentieren. Wenn Merkel verkündet, nichts zu einer Äußerung ihres Vizes sagen zu wollen, kann man darin eine Missbilligung deuten.
Vor dem 27. September 2009, dem Tag der Bundestagswahl, wären Westerwelles Formulierungen als die übliche Oppositionspolemik des FDP-Chefs hingenommen worden. So wie sein Dauer-Wahlkampfspruch, es gebe kein Recht auf staatlich bezahlte Faulheit, auch nie für Empörung sorgte.
Aber die Verhältnisse sind nun anders. Als zweiter Mann der Regierung hat er Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbände gleichermaßen auf die Barrikaden getrieben. Offen stellen sie die Frage: Darf der Stellvertreter der Bundeskanzlerin den Lebensstandard von Hartz-IV-Empfängern mit "spätrömischer Dekadenz" in Verbindung bringen? DGB-Chef Michael Sommer antwortete darauf in den "Ruhr Nachrichten": "Es ist für einen Vizekanzler unangemessen, Millionen von Hartz-IV-Beziehern so zu diffamieren." Die Linkspartei bescheinigte dem Außenminister sogar offene Verfassungsfeindlichkeit. Deren designierter Vorsitzender Klaus Ernst sagte: "Westerwelle ignoriert das Verfassungsgericht und ist ein Fall für den Verfassungsschutz." Merkel müsse sich fragen, "ob ein Außenminister tragbar ist, der ein so problematisches Verhältnis zu Kernbeständen der Verfassung hat". Grünen-Chef Cem Özdemir stellte fest: "Der Vizekanzler und Außenminister versteht die Grundprinzipien unseres Sozialstaats nicht, und sie sind ihm offensichtlich auch wurscht." Westerwelle sei zwar nicht im Schloss aufgewachsen, schwebe aber offenkundig auf einer wattigen Luxuswolke fern der bitteren Lebensrealität von Langzeitarbeitslosen. Zuvor hatte SPD-Chef Sigmar Gabriel zu "Spiegel Online" gesagt: "Wenn man in dem Bild von Herrn Westerwelle bleiben will, dann ist er der Kaiser Nero. Er hat am Staat gezündelt, indem er überall Steuergeschenke an seine Klientel verteilt."
Überrascht hat Westerwelle vermutlich auch seine eigenen Parteifreunde. Als der FDP-Chef erst vor einer Woche im Bayerischen Rundfunk gefragt worden war, wie er auf die schlechten Umfragewerte reagieren wolle, hatte er noch geantwortet: "Ich werde mich von Meinungsumfragen nicht beirren lassen." Offenbar entschied sich Westerwelle danach, seine Strategie doch noch zu ändern.