Ursula von der Leyen plädiert für mehr Sachhilfen. SPD-Linker Ottmar Schreiner weist das energisch zurück.
Berlin. Nach dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird in der schwarz-gelben Koalition über eine mögliche Kürzung der Regelsätze diskutiert. Das soll eine zusätzliche Belastung der Steuerzahler vermeiden. Der CDU-Sozialpolitiker Peter Weiß sagte, die Ausgaben des Staates dürften nicht erhöht werden. Weite Teile der Koalition fordern deshalb mehr Sachleistungen für Langzeitarbeitslose.
Als Beispiel nannte Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) die Finanzierung von Nachhilfestunden - damit "Bildung auch beim Kind ankommt". "Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, dass die Hartz-IV-Sätze zu niedrig sind", sagte Weiß, der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe in der Unionsfraktion, der "Frankfurter Rundschau". "Eine Reform sollte aus meiner Sicht zu niedrigeren Regelsätzen führen."
Der Berliner FDP-Bundestagsabgeordnete Martin Lindner warnte ebenfalls vor einer Anhebung der Hartz-IV-Bezüge, weil dann immer weniger Menschen arbeiten wollten. "Ich möchte nicht, dass wir über ein neues System Anreize schaffen, dass man übers Kinderkriegen Geld verdienen kann", sagte er.
Der SPD-Linke Ottmar Schreiner, Mitglied im Sozialausschuss des Bundestags, hält dagegen: "Löhne und Hartz-IV-Leistungen sind kommunizierende Röhren, deshalb muss der Niedriglohnsektor ausgemistet und die Lohnspreizung nach unten in den Armutskeller beendet werden", sagte er dem Abendblatt.
Forderungen nach mehr Sachleistungen statt Geld wies Schreiner energisch zurück. Wer das vorschlage, gehe davon aus, "dass die Leute nicht vernünftig mit dem Geld umgehen".
Das Bundesverfassungsgericht hatte am Dienstag entschieden, dass die Bundesregierung die Regelsätze für alle gut 6,5 Millionen Hartz-IV-Bezieher neu berechnen muss. Die bisherige Kalkulation sei intransparent und orientiere sich zu wenig an der Realität - die Höhe der Regelsätze hatte das Gericht nicht beanstandet.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) kritisierte den Richterspruch gleichwohl: "Das Urteil zeigt eine problematische Tendenz hin zu einer übertriebenen Einzelfallbetrachtung statt zu einer vernünftigen Pauschalierung", sagte er der "Bild"-Zeitung. Der Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, empfahl, zusätzliche Leistungen für Kinder grundsätzlich als Sachleistungen zur Verfügung zu stellen. "Das können Schulbücher oder Mittagessen in der Schule sein", sagte er. Werde der Regelsatz für Hartz IV stattdessen angehoben, habe das negativen Folgen für den Arbeitsmarkt, prophezeite der Wissenschaftler.
Die Linken-Bundestagsabgeordnete Diana Golze sieht das anders. Weder eine zentralisierte Ausgabe von Schulranzen noch Gutscheine für Nachhilfeunterricht sicherten eine wirkliche Teilhabe an Bildung, argumentierte sie.
Auch der Armutsforscher Christoph Butterwegge nannte Sachleistungen unangemessen. Gutscheine diskriminierten Arme, weil diese durch die Verwendung der Gutscheine im Laden als Arme kenntlich gemacht würden, zeigte sich Butterwegge überzeugt.
Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Andreas Pinkwart forderte erneut die Abschaffung von Hartz IV und die Einführung des von den Liberalen bevorzugten Bürgergelds mit pauschalierten Sozialleistungen. Das Hartz-IV-Urteil sei ein guter Anlass, "um über die Reform des Sozialtransfersystems als Ganzes zu sprechen", sagte er der "Passauer Neuen Presse".
Nach Informationen aus Regierungskreisen will die Bundesregierung die vom Verfassungsgericht geforderte Revision des Hartz-IV-Systems allerdings möglichst schon kurz nach der Sommerpause präsentieren. Insbesondere auf Drängen von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sollen die Regelsätze für Erwachsene und Kinder so schnell wie möglich neu berechnet werden.
Schäuble befürchte durch das Urteil einen "kostspieligen Ermessenswahn", verlautete aus Regierungskreisen weiter. Grund: Karlsruhe hat angeordnet, dass Hartz-IV-Bezieher, die einen "unabweisbaren Sonderbedarf" anmelden, der von keiner Bestimmung in den Sozialgesetzen erfasst ist und abgelehnt wird, direkt beim Sozialgericht klagen können. Um Ärger zu vermeiden, sei zu erwarten, dass die "Auszahlungsstellen" in den Kommunen "lieber zahlen, statt zu verweigern", hieß es gestern in Berlin.