Hamburg. In Karlsruhe geht es heute um nicht weniger als die Würde des Menschen - und darum, mit welchen finanziellen Mitteln sie gesichert werden kann.
Ursprünglich wollte das Bundesverfassungsgericht heute nur über die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder entscheiden. Doch Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier deutete bereits im vergangenen Herbst an, dass auch die Regelsätze für Erwachsene auf den Prüfstand kommen. Im Moment bekommen Erwachsene 359 Euro Arbeitslosengeld, Kinder je nach Alter 215 bis 287 Euro im Monat. Miete und Heizung werden extra bezahlt. Ob diese Beträge mit Artikel 1 des Grundgesetzes vereinbar sind - "Die Würde des Menschen ist unantastbar" -, scheint unsicherer denn je.
Es geht also um viel mehr als um Regelsätze. Das Gericht seziert das Fundament der Agenda 2010, jenes Großprojekts von Ex-Kanzler Gerhard Schröder, das im Jahr 2002 anlief und am 1. Januar 2005 mit dem Inkrafttreten von Hartz IV vollendet wurde. Das Gericht wird sagen, ob der Staat mit seinem Reformeifer zu weit gegangen ist.
Für einen vollen Bauch und eine warme Wohnung sorgt der Staat. Aber was ist mit einem Internetanschluss, einem Handy, Theaterbesuchen oder der Mitgliedschaft im Sportverein? Um die Beantwortung der Frage, wo das Existenzminimum liegt, hat sich der Staat bislang gedrückt. "Ein reiches Land wie Deutschland sollte seinen Bürgern nicht nur Kleidung, Nahrung und ein Dach über dem Kopf geben, sondern Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, Kultur und Freizeit", sagt der Kölner Sozialforscher Christoph Butterwegge dem Abendblatt. "Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, muss sich auch in den Sozialleistungen ausdrücken."
Die Berechnung der Sätze erscheint wie über den Daumen gepeilt: Ein Warenkorb-Modell, nach dem der tatsächliche Bedarf berechnet wird, gibt es nicht. Stattdessen befragt das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre 75 000 Haushalte nach ihren Einnahmen und Ausgaben. Das Bundessozialministerium nimmt einfach die unteren 20 Prozent zur Grundlage - und fertig ist der Regelsatz für Erwachsene. So kam 2005 heraus, dass Hartz-IV-Empfängern genau 127 Euro im Monat für Lebensmittel, Getränke und Tabakwaren zustehen, genau 34 Euro für Bekleidung und Schuhe und 13 Euro für Gesundheitspflege.
Kinder werden einfach wie kleine Erwachsene behandelt: Unter sechs Jahren gibt es 60 Prozent des Erwachsenen-Satzes: 215 Euro. Unter 14 Jahren 70 Prozent (251 Euro), darüber 80 Prozent (287 Euro). Die Auswirkungen dieser Berechungsmethode sind absurd: Säuglingen stehen rechnerisch 11,90 Euro für Tabak und Alkohol zu, Windeln sind nicht vorgesehen.
"Dass der Bedarf eines Kindes nicht gesondert berechnet wird, ist höchst fragwürdig", kritisiert Butterwegge. "Ein 15-Jähriger braucht mehr Hosen als ein Erwachsener, weil er noch wächst. Doch trotzdem muss er sich mit weniger Geld abfinden."
Aber wie viel Geld braucht ein Mensch zum Leben? Jede Berechnung, die dazu in den vergangenen Jahren veröffentlicht wurde, brachte Ärger. Der Chemnitzer Wirtschaftsprofessor Friedrich Thießen wurde vor eineinhalb Jahren von den Gewerkschaften als "Menschenfeind" beschimpft. Der Ökonom hatte ausgerechnet, dass 132 Euro pro Monat für den Lebensunterhalt reichen. Er verordnete Hartz-IV-Empfängern Nudeln vom Discounter und Leitungswasser zum Trinken. Alkohol und Tabak strich er einfach von der Liste. Ein Telefon und einen Internet-Anschluss gab es in Thießens Rechnung nicht, Kino, Theater, Schwimmbad waren auch nicht drin. Die Rechnung sorgte schließlich für so viel Ärger, dass sich Thießens Universität von dem provokanten Rechner distanzierte.
Das andere Extrem ist die Rechnung des Erwerbslosen-Forums. Der Lobbyverband der Hartz-IV-Empfänger fordert "mindestens 500 Euro" als Regelsatz für Erwachsene. Der Paritätische Wohlfahrtsverband will 440 Euro.
Butterwegge glaubt, dass die Verfassungsrichter den Kinderregelsatz heute für verfassungswidrig erklären. "Wenn der Kinderregelsatz gekippt wird, steht auch der Regelsatz für Erwachsene auf der Kippe", sagt er. Das Urteil muss nicht gleich bedeuten, dass die Sätze steigen. Laut Gerichtspräsident Papier werde man den Gesetzgeber "nicht auf Euro und Cent korrigieren".