Zum Start ins neue Jahrzehnt blickt das Abendblatt auf den “Bürger 2020“: Wie wird er leben, was steht ihm bevor? Den Anstoß gab Claus Strunz auf dem Neujahrsempfang.

Bei dem Wort "Bürger" stelle ich mir zunächst die Frage. Wer ist das? Sozialgeschichtlich hat der Begriff eine Wandlung hinter sich. Im Mittelalter galt der Bürger als Bewohner einer befestigten Stadt mit besonderen Privilegien und Grundeigentum, dieser Stand grenzte sich durch seine Rechte vom Klerus, Adel und eben auch von Bauern und Arbeitern ab. Seit der französischen Revolution hat er seine Erweiterung auf alle männlichen Mitglieder eines Staates erfahren. In Deutschland sollten seit 1918 alle Einwohner das volle Bürgerrecht erhalten, sofern sie deutsch sind. Hat sich etwas grundlegend geändert? Begriffe wie Kleinbürger, Bildungs- und Großbürgertum sind nach wie vor an eine Klassengesellschaft gekoppelt. Mit diesem Hintergrund lässt es sich nur schwer über eine Zukunft nachdenken, die die Gesellschaft 2020 zum Positiven gewendet sieht.

Mir ist lieber, den Menschen als Teil der Gesellschaft zu sehen. Allen voran gilt das Menschenrecht mit dem Prinzip der Gleichberechtigung "... ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen".

Sollte es gelingen, dieses Grundprinzip im Jahre 2020 umgesetzt zu haben, hat sich in unserer Gesellschaft vieles zum Besseren verändert. Mir will aber das Teufelchen nicht von der Schulter springen - und die Wandlung zum Gutmenschen, die es für eine solche Entwicklung bräuchte, kann ich auch in zehn Jahren nicht für möglich halten. Zuerst dachte ich daran, ein tiefschwarz gemaltes Bild einer total zerfallenen Gesellschaft an die Wand zu malen. Doch bemerkte ich schnell, dass dieses Bild gar nicht so neu ist. So hoffe ich sehr, dass das Engelchen auf der anderen Schulter es mir erlaubt, den Text weiterzuführen. Als Erstes stellt sich die Frage der sozialen Gerechtigkeit für ein lebenswertes Jahr 2020.

Der Mensch hat erkannt, dass jeder zu dieser Gerechtigkeit beitragen kann, vor allem die Wohlhabenden. Verzicht auf Turbogewinne seitens der Vermögenden, der Unternehmen, Banken, Aktionäre ist ganz großgeschrieben. Nicht nur die Vermögenssteuer ist wieder eingeführt, sondern auch die Bereitschaft, einen Teil der Gewinne für soziale und kulturelle Zwecke abzugeben, ist Ehrensache. Eine viel gerechtere Lohn- und Gehaltsverteilung ist eingeführt, speziell so wichtige Tätigkeiten wie Dienste im Bereich der Bildung, der Gesundheit und des Sozialen werden adäquat vergütet. Ein verträglich begrenzter Höchstlohn für Spitzenverdiener hat sich durchgesetzt. MitarbeiterInnen von größeren Unternehmen werden Gewinnbeteiligungen zugesichert.

Durch diese Umverteilung des Kapitals hat sich die Wirtschaft längst erholt und die Lebensqualität hat sich für alle verbessert. Da der Mensch durch seine bessere wirtschaftliche Situation seine Existenzangst abgelegt hat, muss er sich nicht mehr mit billiger Unterhaltung durch TV-Sendungen und Mega-Events ablenken lassen. Er hat die Möglichkeit, sich am kulturellen Leben zu beteiligen, wodurch sich die Vielfalt und Qualität enorm verbessert hat. Davon profitieren nicht nur die etablierten Häuser wie Theater, Museen und Konzertsäle, sondern insbesondere auch die freie Szene. Dem Menschen 2020, ob jung oder alt stehen alle Bildungsmöglichkeiten frei zur Verfügung. Durch diese Vielfältigkeit hat sich der Mensch zu eigener Kreativität inspirieren lassen, er beteiligt sich aktiv an der Gestaltung seiner gewonnenen Freiheit und seiner Umgebung. Er bestimmt eigenverantwortlich, wie und was er konsumiert, ökologische Gesichtspunkte können den ökonomischen vorangestellt werden. Genossenschaften und Kooperativen gehören im Jahre 2020 zu den erfolgreichsten Organisationsstrukturen.

Das Engelchen auf meiner Schulter könnte noch ewig weiterflüstern, doch hat es eines außer Acht gelassen: Für eine Entwicklung dieser Art bedarf es einer wirklichen Rückbesinnung. Die Ideen von Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Emanzipation sind nicht neu, um diese aber umzusetzen, bedarf es

Arbeit, Engagement und vor allem Bewusstsein über die Lebensumstände aller. Aus meiner Sicht muss sich in erster Linie die Politik darüber Gedanken machen, wie sie eine Offenheit und Transparenz schaffen kann, um ein verloren gegangenes Vertrauen wieder herzustellen. Soll die Wahlbeteiligung im Jahre 2020 bei 99 Prozent liegen, müssen die Menschen das Gefühl wiedererlangen, von den Staatsdienern vertreten zu werden - und zwar alle. Hierzu wäre es mehr als wünschenswert, die schon jetzt überaus engagierten Initiativen und Vereine, Ehrenamtliche und Stiftungen verstärkt in Entscheidungsprozesse einzubinden. Ebenso grundlegend ist aber auch die Bereitschaft eines jeden Menschen, sich mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen auseinanderzusetzen, ein Vertrauen in sein Gegenüber aufzubringen und das Gespräch zu suchen, Gemeinschaften zu bilden und sich über die eigenen Möglichkeiten zur Veränderung bewusst zu werden. Allen, die Zeit aufbringen können, sich politisch zu engagieren, kulturell aktiv zu werden oder einfach anderen zu helfen, wird schnell klar, dass dieses Engagement auch zum eigenen Wohlbefinden und Selbstverständnis beiträgt.

Die Möglichkeit zur Mitgestaltung des Stadtbildes und der eigenen Lebensbedingungen muss seitens der Politik gegeben sein. Diese Möglichkeiten müssen nun erarbeitet werden, damit sich nicht nur das Recht auf Stadt, sondern auch das Recht auf Kultur, auf Bildung und Gleichheit in spätestens zehn Jahren durchgesetzt hat. Das bedingungslose Grundeinkommen, Tauschringe und andere Alternativen zum jetzigen System werden in den nächsten Jahren - so hoffe ich - weiterentwickelt und diskutiert. Der Blick für wahre und gerechte Innovationen, nicht nur im Sektor Wirtschaft und Ökologie, hat sich geschärft. Und der Mut, sich von altgedienten Prozessen und Systemen zu verabschieden, ist gewachsen.

2020 ist der Mensch integrierter, selbstbestimmter und aktiver Teil unserer Gesellschaft, die möglicherweise in der Lage ist, 2030 den Staat durch eine völlig neue Verwaltungsform abzulösen.

Bisher sind Beiträge von Rainer Brüderle, Michel Friedman, Thomas Straubhaar,Klaus von Dohnanyi, Klaus-Peter Schöppner und Christine Ebeling erschienen. Montag lesen Sie als letzten den Beitrag von Joachim Lux, Intendant des Thalia-Theaters.