Deutschlands oberster Richter über die begrenzte Macht der Bundesländer in der Steuerpolitik, die Gefahr von Volksentscheiden und über Klimaschutz als Staatsziel.
Karlsruhe. Hamburger Abendblatt: Professor Papier, sind Sie ein Zahlenmensch?
Hans-Jürgen Papier: Eigentlich weniger. Ich denke eher in Worten und Begriffen.
Abendblatt: Bis zu welcher Größenordnung können Sie sich Geldsummen vorstellen?
Papier: 500 Milliarden? Eine Billiarde? Je astronomischer die Zahlen nach oben gehen, desto undeutlicher erscheinen sie nicht nur mir, sondern wohl den meisten Bürgern dieses Landes.
Abendblatt: Die Bundesregierung will im kommenden Jahr 100 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen. Darf sie das?
Papier: Ich möchte aktuelle politische Vorhaben rechtlich nicht bewerten. Ich verweise allgemein auf die novellierte Verschuldungsgrenze im Grundgesetz, die allerdings erst in den nächsten Jahren zum Tragen kommt. Die neue Schuldenbremse ist strenger als die bisher geltende. Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder müssen künftig in der Regel ohne Kreditaufnahme ausgeglichen sein.
Abendblatt: Ist die Schuldenbremse nicht schon Makulatur?
Papier: Nein, mit Sicherheit nicht. Abgesehen von einigen Übergangsregelungen für die Zeit bis Ende 2019 müssen Bund und Länder die Anforderungen der Schuldenbremse einhalten. Ansonsten könnte das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Soweit das Verschuldungsverbot zwingendes Verfassungsrecht ist, macht es Staatshaushalte, die von den absoluten Vorgaben abweichen, verfassungswidrig. Den politischen Akteuren wird nichts anderes übrig bleiben, als das selbst gesetzte Ziel einzuhalten.
Abendblatt: Was bedeutet das für die geplanten Steuersenkungen?
Papier: Ich bitte um Verständnis, dass ich mich zu politischen Vorhaben nicht äußern möchte. Ich verweise lediglich auf den momentanen Diskussionsstand und auf Stellungnahmen etwa des Bundesrechnungshofs ...
Abendblatt: ... der keinerlei Spielraum für Steuersenkungen sieht. Wo kann der Staat sparen, um die Schuldenbremse einzuhalten?
Papier: Die verfassungsrechtliche Schuldenbremse allein führt noch nicht zu Einsparungen. Es geht darum, die Schuldenfaktoren zu reduzieren. Es muss deshalb auch eine grundlegende kritische Bewertung der Staatsaufgaben geben. Diese und mit ihnen die Ausgaben des Staates sind in den vergangenen Jahrzehnten permanent angestiegen. Die Verschuldung der öffentlichen Hand ist mittlerweile enorm. Ich nenne jetzt keinen Katalog von Feldern, aus denen der Staat sich zurückziehen könnte. Es ist allerdings unausweichlich, dass sich Bund, Länder und Kommunen der Frage stellen: Welche Aufgaben können wir noch wahrnehmen und welcher müssen wir uns entledigen? Das wird eine der zentralen politischen Entscheidungen der nächsten Jahrzehnte sein. Eine Hauptaufgabe der künftigen Politik der Schuldenbegrenzung und des Schuldenabbaus wird darin bestehen, staatliche Aufgabenwahrnehmungen auf den kritischen Prüfstand zu heben. Dabei darf nicht nach dem Kriterium des Wünschbaren, sondern es muss nach dem Kriterium des Notwendigen entschieden werden.
Abendblatt: Wenn der Bund die Steuern senkt, leiden auch die Länder. Funktioniert so ein gerechtes Finanzsystem?
Papier: Die föderale Finanzverfassung - die Finanzbeziehungen des Bundes zu den Ländern und der Länder untereinander - muss überprüft und überdacht werden. Die Föderalismuskommission hat diese Aufgabe nicht gelöst, auch wenn in der von ihr erarbeiteten strengeren Schuldenbremse ein wichtiger Fortschritt zu sehen ist.
Abendblatt: Wie könnte eine Reform der Finanzverfassung aussehen?
Papier: Wir sollten die Bundesländer und ihre finanzpolitische Eigenverantwortlichkeit stärken. Die ist leider sehr gering.
Abendblatt: Konkret?
Papier: Man könnte etwa den Bundesländern in stärkerem Maße originäre Einnahmequellen verschaffen, zum Beispiel eigene Steuern. Man könnte den Ländern auch die Möglichkeit geben, bei den großen Gemeinschaftssteuern wie der Einkommenssteuer eigenständig Aufschläge oder Abschläge zu erheben. Jedenfalls sollten die Bundesländer mehr Finanzautonomie bekommen. Wir sollten auch hier mehr Föderalismus wagen.
Abendblatt: Gehört dazu auch eine Neuordnung des Länderfinanzausgleichs, wie Bayern sie fordert?
Papier: Ohne die Einzelheiten zu bewerten: Der Länderfinanzausgleich ist Ausdruck einer bundesstaatlichen Solidarität. Die Bundesländer sind bislang unterschiedlich groß und ökonomisch unterschiedlich stark. Solange nicht alle aus eigener Kraft überleben können, ist ein Finanzausgleich deshalb unumgänglich.
Abendblatt: Man könnte ärmere Bundesländer mit reicheren zusammenschließen, um konkurrenzfähige Einheiten zu schaffen.
Papier: Eine Zusammenlegung könnte Bundesländern helfen, aus eigener Kraft finanzpolitisch zu überleben. Allerdings sehe ich, dass Länderfusionen derzeit politisch nicht durchsetzbar sind.
Abendblatt: Herr Präsident, Sie gelten nicht als Freund direkter Demokratie. Hat der Schweizer Volksentscheid über den Bau von Minaretten Ihre Skepsis verstärkt?
Papier: Es steht mir nicht zu, Vorgänge in einem anderen Staat zu beurteilen. Zutreffend ist, dass ich von Volksentscheiden in Deutschland auf Bundesebene wenig halte.
Abendblatt: Warum ist das so?
Papier: In einem Staat der Größenordnung Deutschlands sind bundespolitisch zu klärende Fragen regelmäßig so komplex, dass sie nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten sind. Solch vereinfachende Fragestellungen sind aber vielfach Gegenstand von Volksentscheiden, die im Übrigen auch von populistischen Erwägungen geleitet sein können. So schematisch und populistisch sollte etwa über Reformen der Sozialsysteme oder des Steuerrechts nicht entschieden werden.
Abendblatt: Welche Fragen eignen sich dann für Referenden?
Papier: Auf kommunaler Ebene gibt es viele Themen, etwa den Bau von Umgehungsstraßen oder Freizeitparks. Da haben sich Bürgerentscheide bewährt.
Abendblatt: In Hamburg hat die Bevölkerung per Unterschriftensammlung die schwarz-grüne Schulreform torpediert. Ein Zeichen funktionierender direkter Demokratie?
Papier: Das Hamburger Vorhaben möchte ich nicht in der Sache bewerten. Ganz allgemein lässt sich aber feststellen, dass das Interesse der Bürger am Schulbereich immer hoch gewesen ist. Auch in Bundesländern, in denen es keine Referenden gibt, haben sich Themen der Schulpolitik oftmals bei Wahlentscheidungen ausgewirkt. Ich sehe keinen Grund, bei den für die Bürger besonders zentralen Kommunal- und Landesthemen Volks- und Bürgerentscheide zu kritisieren. Allerdings muss natürlich auch ein durch Volksentscheid zustande gekommenes Gesetz den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen und sich gegebenenfalls vor dem Verfassungsgericht daran messen lassen.
Abendblatt: Die möglicherweise entscheidende Frage unserer Zeit ist die Begrenzung der Erderwärmung. Sollte der Klimaschutz im Grundgesetz verankert werden?
Papier: Grundsätzlich muss sich die Politik stärker an den langfristigen Interessen der Gesellschaft orientieren. Fragen der generationsübergreifenden Gerechtigkeit, der Nachhaltigkeit allgemein, werden nicht selten von den Interessen der gegenwärtigen Generation der Wähler verdrängt, was sich im Handeln der politischen Parteien niederschlägt.
Abendblatt: Was erwarten Sie?
Papier: Ich halte Staatszielbestimmungen im Grundgesetz, die den Gedanken der Nachhaltigkeit befördern, für sinnvoll, auch wenn sie allein noch nichts bewirken. Der Artikel 20a spricht bereits davon, dass im Interesse auch künftiger Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen sind. Sehr interessant finde ich einen Gesetzentwurf aus der vergangenen Wahlperiode, mit dem der Nachhaltigkeitsgedanke über den Umweltschutz hinaus im Grundgesetz verankert werden sollte.
Abendblatt: Nämlich wie?
Papier: Ein zusätzlicher Artikel sollte lauten: "Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künftiger Generationen zu schützen." Der Gesetzentwurf war fraktionsübergreifend und wurde unter anderem von zwei Politikern eingebracht, die jetzt Bundesminister sind: Kristina Köhler und Karl-Theodor zu Guttenberg.
Abendblatt: Der Antrag ist nicht Gesetz geworden.
Papier: Das schließt es nicht aus, den Gedanken der Nachhaltigkeit als allgemeines Staatsziel doch noch in die Verfassung aufzunehmen. Dies könnte immerhin zu einem Bewusstseinswandel in Deutschland beitragen. Generationsübergreifende Gerechtigkeit ist von entscheidender Bedeutung - in der Sozialpolitik, der Finanz- und Haushaltspolitik wie in der Klimapolitik.
Abendblatt: Der Weltklimagipfel in Kopenhagen ist hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Sind Nationalstaaten - demokratische zumal - mit der Lösung dieser Menschheitsfrage überfordert?
Papier: Demokratien sind hier nicht mehr überfordert als andere Staaten. Allerdings kann der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen nicht mehr allein auf nationaler Ebene erreicht werden. Vielfach ist eine globale Lösung notwendig. Wie schwierig das ist, hat sich in Kopenhagen gezeigt.
Abendblatt: Wie stark darf ein demokratischer Staat in das Leben seiner Bürger eingreifen, um die Erderwärmung zu begrenzen?
Papier: Staatszielbestimmungen wie in Artikel 20a legitimieren den Gesetzgeber, in gewissem Maße auch in Grundrechte der Bürger einzugreifen. Dabei muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden.
Abendblatt: Wäre es beispielsweise erlaubt, zum Schutz des Klimas alle Autos mit Verbrennungsmotoren zu verbieten?
Papier: Ich möchte an dieser Stelle kein Rechtsgutachten erstellen und Ihre Frage unbeantwortet lassen. Allerdings weise ich darauf hin, dass es bereits zahlreiche Beschränkungen der wirtschaftlichen und individuellen Betätigung gibt, die dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen dienen. Beschränkungen zum Schutze der Umwelt sind daher nichts grundsätzlich Neues.
Abendblatt: Professor Papier, in wenigen Wochen endet Ihre Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Wie viel Wehmut begleitet Sie?
Papier: Ich bin zwölf Jahre Verfassungsrichter gewesen, davon acht Jahre als Präsident. Eine Periode, die interessant, schön, sehr fordernd, aber auch hinreichend ist. Ich freue mich, dass ich bald wieder mehr Zeit habe, mich der Lehre des Rechts an der Universität München zu widmen.