30 Tage nach ihrem Amtsantritt ist die schwarz-gelbe Bundesregierung gewaltig ins Schlingern geraten.
Berlin. Sicher, der Verteidigungsausschuss traf sich morgens zu einer Sondersitzung, aber sonst schien es im parlamentarischen Berlin ein ruhiger Tag zu werden. Ein Tag, an dem sich die meisten Politiker und Journalisten schon auf den Abend freuten. Weil sie vorhatten, zum Bundespresseball zu gehen.
Dann kam die Eilmeldung. Franz Josef Jung, hieß es um 13 Uhr, habe vor aufzugeben!
Eine halbe Stunde später trat Jung im Bundesarbeitsministerium vor die Presse. Mit rotem Kopf, aber sehr gefasst. Für die sieben Sätze, die er sich notiert hatte, brauchte er zwei Minuten. Es war das letzte Ringen um die eigene Reputation. Der Kernsatz lautete: "Ich habe sowohl die Öffentlichkeit als auch das Parlament über meinen Kenntnisstand korrekt unterrichtet." Als Franz Josef Jung dann endgültig von der politischen Bühne abtrat, fiel er in sein hessisches Idiom. "Ham Se recht herzlichen Dank", sagte er und schaute dabei noch einmal intensiv in die Runde. "Besten Dank." Und in diesem Moment wurde kurz so etwas wie Erleichterung sichtbar. Die Erleichterung darüber, den schweren Gang mit Anstand hinter sich gebracht zu haben.
Während Jung schon auf dem Weg nach Hause war, brach in Berlin ein mittleres Beben los. Auch wenn die Opposition zunächst etwas Mühe hatte, sich auf die neue Lage und eine gemeinsame Linie einzuschießen. Die SPD-Politikerin Susanne Kastner, die am Morgen noch die Sondersitzung des Verteidigungsausschusses geleitet hatte, erklärte, sie sei erleichtert über Jungs Rücktritt: "Das erspart uns einen Untersuchungsausschuss." Das sah ihre Generalsekretärin allerdings völlig anders. Andrea Nahles sprach von einer schwarz-gelben Regierungskrise "nach gerade mal vier Wochen". Nur dank des schlechten Krisenmanagements der Bundeskanzlerin habe Franz Josef Jung noch "weiterwurschteln" dürfen, sagte Nahles. Und sie nutzte die Gelegenheit, Angela Merkel (CDU) vorzuwerfen, den glücklosen Hessen ohnehin nur aus "parteitaktischen Gründen" zum Arbeits- und Sozialminister berufen zu haben. Der, meinte sie scharf, sei doch bereits als Verteidigungsminister "erkennbar überfordert" gewesen.
Währenddessen kursierten schon erste Namen für die Nachfolge an der Spitze des Bundesarbeitsministeriums. Ein Hesse müsse es wieder sein, hieß es aus Unionskreisen, aber ein Wechsel von Ministerpräsident Roland Koch (CDU) ins Bundeskabinett sei mehr als unwahrscheinlich. Kochs Umweltministerin Silke Lautenschläger (CDU), die im Oktober an den schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen teilgenommen hatte und als Favoritin galt, winkte sofort ab. Genauer gesagt, ließ die 41-Jährige abwinken. "Die Ministerin macht hier ihre Arbeit und bleibt weiter in Hessen", erklärte eine Sprecherin des Umweltministeriums in Wiesbaden knapp. Danach konzentrierten sich die Spekulationen auf Kochs Kronprinzen: auf Christean Wagner, den CDU-Fraktionsvorsitzenden im Wiesbadener Landtag, und auf Innenminister Volker Bouffier. Möglicherweise, hieß es, könne sich sogar der langjährige hessische Wirtschaftsminister Alois Rhiel Hoffnung auf den frei gewordenen Posten machen.
Unterdessen erklärte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm, das Vertrauen der Kanzlerin sei "erschüttert". In wen oder was, das sagte Wilhelm allerdings nicht. Nur, dass dieses Vertrauen allein durch "Transparenz und Offenheit" wiederhergestellt werden könne.
Tatsächlich hatte Angela Merkel den brisanten Bundeswehr-Bericht zum Luftangriff vom 4. September nahe Kundus, bei dem bis zu 142 Menschen getötet oder verletzt worden waren, erst am Mittwochabend von ihrem neuen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg per Fax erhalten. Also wenige Stunden vor Beginn der Bundestagsdebatte, die Franz Josef Jung dann zwar gerade noch überstand, die seinen bereits für Donnerstag erwarteten Rücktritt aber nur hinauszögerte.
Mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Empörung hatten die Bundestagsabgeordneten Jungs hilflos sture Selbstverteidigung im Parlament verfolgt, die mit dem Satz endete: "Ich denke, dass aus diesem gesamten Sachverhalt eindeutig hervorgeht, dass ich sowohl die Öffentlichkeit als auch das Parlament korrekt über meinen Kenntnisstand hinsichtlich dieser Vorgänge informiert habe." Was die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth mit der Bemerkung quittierte, es sei im Prinzip vollkommen egal, ob Jung in der Kundus-Affäre gelogen habe oder ob man ihm nur Führungsschwäche vorwerfen könne: In jedem Fall sei er als Minister nicht länger haltbar. Aus der eigenen Partei war Jung am Donnerstag nur wenig Loyalität zuteil geworden. Auch Angela Merkel hatte während der Debatte deutlich Distanz gehalten.
Bevor Jung gestern aufgab, ist er ins Bundeskanzleramt gefahren. Hoffnung, dass ihn Angela Merkel vom Rücktritt abhalten würde, kann er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gehabt haben. Dass die Kanzlerin später sagte, sie wisse, dass es ein "menschlich sehr schwerer Tag" für Franz Josef Jung gewesen sei, ließ immerhin erahnen, dass ihr die Dimension des Vorgangs klar gewesen ist. Schließlich hat der Winzersohn aus Erbach, der 2005 viel lieber Landwirtschaftsminister als Verteidigungsminister geworden wäre, schon einmal zurücktreten müssen. Im September 2002, als aufgeflogen war, dass die hessische CDU Schwarzgelder als "jüdische Vermächtnisse" getarnt hatte. Um den Kopf des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch zu retten, übernahm Jung damals die Verantwortung und trat als Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten zurück.
Koch war am Freitag übrigens sichtlich bestürzt. Der Amtsverzicht seines Freundes Franz Josef Jung gehe ihm "persönlich sehr nahe", sagte Koch in Wiesbaden. Und dass er hoffe, dass Jungs Leistungen als Bundesverteidigungsminister "mit einigen Wochen Abstand" wieder "anerkannt" würden.
Damit ist allerdings wohl eher nicht zu rechnen. Die Liberalen, mit denen Angela Merkel seit einem Monat regiert, hatten Franz Josef Jung ja bereits böse als "Altlast" bezeichnet, die man schleunigst loswerden müsse. Der FDP-Generalsekretär von Nordrhein-Westfalen, Christian Lindner, hatte bereits verdüstert auf die am 4. Mai anstehende Landtagswahl geblickt und gemeint, der ehemalige Verteidigungsminister, der nun als Arbeitsminister am Kabinettstisch sitze, sei da "eine gewisse Hypothek". Deshalb, so Lindners Appell an Berlin, "sollten wir die Problemlösung nicht zu lange ins kommende Jahr verlängern".
Das "Problem" hat sich gestern Mittag erledigt. Dreieinhalb Stunden später gab die Kanzlerin ihre Kabinettsumbildung bekannt. Den ausgeschiedenen Minister nannte sie einen "geradlinigen Kollegen" und "feinen Menschen".
Am Montag soll Franz Josef Jung in Berlin offiziell verabschiedet werden.