Auch der Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg musste sich Kritik anhören. Auf abendblatt.de: Fakten zum neuen Bundestag.

Berlin/Hamburg. Er hielt eine Rede, die sich einige hinter den Spiegel stecken können: Bundestagspräsident Norbert Lammert (60) hat sich in der ersten Sitzung des neuen Parlaments von seiner zornigen Seite gezeigt. Und er hat eine Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre angeregt. Nach Einschätzung der meisten Wähler gebe es von der Kommunal- bis zur Europawahl zu viele Urnengänge in Deutschland, sagte der CDU-Politiker nach seiner Wiederwahl.

Scharfe Kritik übte er am geringen Medieninteresse an der Parlamentsarbeit. Den öffentlich-rechtlichen Sendern warf er vor, statt der konstituierenden Sitzung Seifenopern oder Spielfilme ins Programm genommen zu haben. In der ARD sei stattdessen die TV-Komödie „Schaumküsse“ und im ZDF „Alisa – Folge deinem Herzen“ zu sehen gewesen, gefolgt von „Bianca – Wege zum Glück“. Lammert sagte: „Ich folge auch meinem Herzen und nenne diese Programmentscheidung ganz vorsichtig, in wörtlichem Sinne bemerkenswert.“

Ihm fehle „jedes Verständnis, dass ein gebührenpflichtiges Fernsehen, das dieses üppig dotierte Privileg allein seinem besonderen Informationsauftrag verdankt, auch an einem Tag wie heute mit einer souveränen Sturheit der Unterhaltung Vorrang vor der Information gibt.“ Lammert erntete für diese Äußerungen langanhaltenden Beifall.

Das ZDF verwies darauf, dass der öffentlich-rechtliche Ereigniskanal Phoenix von ARD und ZDF sowie heute.de die Sitzung live übertragen hätten. Der Bundestagspräsident werde zudem in allen Nachrichtensendungen von „heute“ und „heute-journal“ mit Ausschnitten aus seiner Bundestagsrede vertreten sein.

Bei seiner Wahl zum Präsidenten des 17. Deutschen Bundestages erhielt Lammert die Stimmen von 522 der 617 Abgeordneten. Mit der Zustimmung von 84,6 Prozent lag Lammert schlechter als vor vier Jahren (93,1 Prozent). Größere Veränderungen gab es baulicher Art: In der ersten Reihe des Hauses für 622 Abgeordnete, wo die Abgeordneten sitzen, deren Gesichter sicher im Fernsehen sind, kann die SPD nur noch drei statt fünf Sitze für sich beanspruchen. CDU und CSU haben dort künftig sechs Sitze, FDP, Grüne und Linke je zwei.

Lammert sagte zu den Expertisen, die der bisherige Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in Anwaltskanzleien anfertigen ließ: „Die Beteiligung von Sachverstand aus Wirtschaft und Gesellschaft zur Vorbereitung staatlicher Entscheidungen in der Exekutive wie der Legislative ist eine Errungenschaft postfeudaler Zeiten und ganz sicher kein Skandal. Allerdings: Weder ist die Regierung 'Gesetzgeber' noch das Parlament 'Gesetznehmer' – und der entstandene Eindruck, diese zentrale staatliche Aufgabe werde immer häufiger und möglichst unauffällig an Anwaltskanzleien, Beratungsunternehmen und Gutachter abgetreten oder ausgelagert, stärkt die Autorität der Verfassungsorgane nicht, weder nach innen noch nach außen.

Über 100 verschiedene Berufe sind im neuen Parlament vertreten. Ein Drittel sind Neulinge: 203 Abgeordnete waren vorher nicht im Bundestag. Es dominieren nach wie vor die Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes und Juristen. Der Frauenanteil gibt Anlass zur Sorge. Auch wenn an der Spitze der Regierung in Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Frau steht, ist der Frauenanteil von 20 Prozent bei CDU/CSU dürftig. Bei der FDP ist nicht einmal jeder vierte Mandatsträger weiblich. In der SPD-Fraktion sind jetzt 38,5 Prozent Frauen (vorher (36 Prozent). Bei den Grünen (jetzt 54,4 Prozent) sind die weiblichen Abgeordneten traditionell in der Mehrheit. Erstmals schafften dies auch die Frauen bei der Linkspartei (52,6 Prozent).

Die Zahl der Studenten mit Mandat wuchs von null auf sechs. Dazu gehört auch der angehende Betriebswirt Florian Bernschneider von der FDP, der mit 22 Jahren jüngste Abgeordnete. Deutlich zugenommen haben die Abgeordneten mit Berufsangabe Journalist (15) und Gewerkschaftssekretär (14). Als Unternehmer bezeichnen sich 13 Parlamentarier. Rückläufig ist die Berufsbezeichnung Politologe (jetzt 17, bislang 28). Die Zahl der Ärzte (7) und Landwirte (11) ist im Vergleich zur vergangenen Wahlperiode in etwa gleich geblieben.

Immerhin verdoppeln konnte die SPD die Zahl der klassischen Arbeiter in den eigenen Reihen: Neben dem wiedergewählten Maurer Anton Schaaf stieß mit dem Elektrohauer Michael Gerdes jetzt ein zweiter zur Fraktion. Einen eher seltenen Beruf hat auch Katharina Landgraf. Als Meliorationsingenieurin war die CDU-Politikerin aus Thüringen vor dem Parlamentseinzug in der Wasserwirtschaft tätig. Ihr neuer FDP-Kollege Erik Schweickert aus Baden-Württemberg bringt als ausgewiesener Önologe Erfahrung mit Qualitätsweinen mit nach Berlin. Die Bayerin Agnes Krumwiede von den Grünen kommt mit einem Piano-Konzertdiplom in die Hauptstadt.

Parlamentarier aus Einwandererfamilien sind bei der FDP der in Teheran geborene Diplom-Kaufmann Bijan Djir-Sarai, bei der Linkspartei der ebenfalls aus einer iranischen Familie stammende Student Niema Movassat sowie der Jurist Raju Sharma, der einen Vater aus Indien hat. Weiterer Neuling ist bei den Grünen der in der Türkei geborene Anwalt Memet Kilic.

Bei den Grünen wurden außerdem Ekin Deligöz und der im Iran geborene Omid Nouripour wiedergewählt, bei den Linken die Duisburgerin Sevim Dagdelen. Bei den Sozialdemokraten schafften nur der Innenpolitiker Sebastian Edathy (mit indischem Vater) und der gebürtige Kroate Josip Juratovic die Rückkehr ins Parlament.

Traditionell wurde die konstituierende Sitzung vom ältesten Abgeordneten eröffnet. Dies ist diesmal der 73-jährige Heinz Riesenhuber (CDU). Am Mittwoch wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wieder vereidigt. (ryb/dpa)