Im Moment der schwersten Niederlage will sich Frank-Walter Steinmeier als SPD-Fraktionschef die Macht sichern.

Berlin. Natürlich musste er von der "bitteren Niederlage", dem "bitteren Tag" sprechen. Das historisch schlechteste Ergebnis verlangte einfach nach deutlichen Worten, dem klaren Eingeständnis der Niederlage und der Ankündigung, schonungslos nach den Ursachen zu forschen. Aber Frank-Walter Steinmeier wollte sich nicht viel länger in allgemeiner Parteitrauer aufhalten. Er konnte auf dem Podium des Willy-Brandt-Hauses kaum aufhören zu lächeln. Und diese Regung verriet viel.

Es war nämlich nicht das Verlegenheitslächeln eines enttäuschten Verlierers. Es war ein Lächeln eines gewieften Taktikers, der machtbewusst seine Partei in die Zukunft führen will. Es war das Lächeln eines Pragmatikers, der kühl rechnend festgestellt hat: Die Partei hat verloren, aber ich habe ein bisschen gewonnen. Steinmeier hält Opposition offensichtlich gar nicht so sehr für "Mist" wie Parteichef Franz Müntefering. So tat der gescheiterte Kanzlerkandidat kurz nach der ersten Hochrechnung alles, um der Schockstarre der Genossen ein Ende zu setzen. Und das gelang ihm, indem er eine Diskussion um eine neue Ausrichtung der Partei in einem Punkt im Keim erstickte: Er wolle Oppositionsführer werden, sagte Steinmeier. Und der Jubel, den er dafür erntete, sprach Bände. Im Moment der denkbar schlimmsten Niederlage sicherte sich Steinmeier, der Mann der Mitte, gestern die Macht an entscheidender Stelle.



Eine derart abgestrafte Partei dürfe sich nicht sofort in eine Flügeldebatte hineinstürzen, so sagten es gestern einige Parteimitglieder in der SPD-Zentrale. Dass die Flügelkämpfe kommen, das weiß die SPD ohnehin. Aber nun will Steinmeier selbst seine Partei der Linken annähern, allein weil es die Arithmetik dieses Ergebnisses verlangt. Und wenn es eines Tages zu einem Linksbündnis kommen sollte, dann wird er es selbst führen wollen. Und es gibt nicht wenige, die ihn als nächsten Parteichef sehen.


Das mag absurd erscheinen. Denn Steinmeiers Niederlage hatte die Partei lange absehen können.


Der Kandidat hatte vor allem eine schwarz-gelbe Koalition verhindern wollen. Das war schon ein bescheidenes Ziel für jemanden, der eigentlich Kanzler werden wollte. Zum Schluss ist ihm weder das eine noch das andere gelungen.


Am Sonnabend hatte er bei seinen letzten Marktplatz-Auftritten noch orakelt: "Das Wahlergebnis wird ein ganz anderes sein, als es vor Wochen vorhergesagt wurde." Vielleicht war es der Aufwind, den die SPD nach dem TV-Duell zu spüren geglaubt hatte, der diesen Optimismus erklärbar macht. Der vermeintliche Aufwind war am Ende nur ein Lüftchen gewesen. Was Schröder 2005 gelungen war, dieser fulminante Wahlkampf-Endspurt und das kaum für möglich geglaubte Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Union, sollte eine Einmaligkeit bleiben. Die SPD hatte sich dennoch bis zuletzt eingeredet, Steinmeier könne auch, was Schröder einst konnte. Vielleicht hatte die Partei vergessen, dass Steinmeier erst vor gut einem Jahr am Schwielowsee zum echten Parteipolitiker wurde, als er sich selbst zum Kanzlerkandidaten ausrief und Franz Müntefering als Parteichef reaktivierte. Doch in der Partei glauben viele inzwischen, dass vor allem die Personalie Müntefering ein Fehler war.


So wurde gestern SPD-intern Steinmeier das desaströse Ergebnis gar nicht allzu sehr angelastet. Während es vom Außenminister hieß, er habe das Beste im Rahmen seiner Möglichkeiten getan, wirkte die Enttäuschung über den Vorsitzenden Müntefering weitaus größer. Schließlich sei es seine Strategie gewesen, mit der die Partei in die verheerende Niederlage gerauscht war. Müntefering wird es angelastet, dass die SPD zu spät auf ihre Erfolge in elf Jahren Regierungszeit hingewiesen habe.


So lauschte die Basis gestern besonders aufmerksam den Worten ihres Vorsitzenden. Ein sofortiger Rücktritt - auch um Steinmeiers Verantwortung zu lindern - war im Bereich des Denkbaren. Doch Müntefering ließ klar durchblicken, er wolle wieder als SPD-Vorsitzender kandidieren. "Alles, was ich dazu gesagt habe, gilt", sagte er.


Ob die Partei ihm folgen wird, wird nun die spannendste Frage der kommenden Wochen. Allein die wenigen Worte des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, ließen die Zweifel an einem personellen "Weiter so" klar erkennen. Im ZDF sagte er auf die Frage, ob Müntefering Parteichef bleiben solle: "Natürlich ist Franz Müntefering noch möglich. Das ist seine Entscheidung." Worte, die fast schon nach einer Kampfkandidatur beim Parteitag im November klingen.


Und Wowereit bekam indirekte Unterstützung. Die Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel forderte eine grundlegende Diskussion über die Ursachen des Wahlergebnisses der SPD. "Es braucht einen radikalen Erneuerungsprozess." Die Partei hat nicht vergessen, dass Müntefering schon frühzeitig seine erneute Kandidatur für den Parteivorsitz bekannt gegeben hatte. Der Missmut darüber ist geblieben. Wenn die SPD jetzt ein Opfer für dieses Ergebnis braucht, dann wird es vermutlich Müntefering heißen.