Sehr geehrter Dr. Naumann,

lieber Michael,

ich las Ihren öffentlichen Brief an Kurt Beck im Hamburger Abendblatt. Sie erwarten öffentliche Antworten. Hier meine.

Sie pflegen in diesem Brief in entscheidenden Punkten des Deutschen liebste Legende, die Dolchstoßlegende. Diese ist für die politische Kultur sehr gefährlich.

Sie schreiben, Sie hätten in Hamburg bei 29 Prozent begonnen und wären bei 39 Prozent am Wahlabend gelandet, wenn Ihnen nicht Kurt Beck drei Tage vor der Wahl in den Rücken gefallen wäre.

Lassen Sie mich dies einmal wieder vom Kopf auf die Füße stellen.

Die SPD in Hamburg lag am Ende des Jahres 2006 (also kurz vor dem kriminellen Betrug an 5000 Mitgliedern, die an einer Abstimmung teilgenommen hatten) bei 33 Prozent, sie landete am Wahlabend bei 34,1 Prozent, und dies, obwohl in mehr als 14 Monaten gut eine Million Euro in eine langfristig angelegte Wahlkampfkampagne gesteckt wurde.

Ein enttäuschendes Ergebnis!

Allerdings lag die Linke vor eineinhalb Jahren zwischen vier und fünf Prozent. Am Wahlabend hatte sie 6,4 Prozent. Einen Beitrag an dieser für die SPD ungemütlichen Entwicklung haben auch Sie selbst durch eine falsche Strategie geleistet. Ich gebe hier Ole von Beust ausdrücklich recht, wenn er sagt, dass die von Ihnen erfolgte Dämonisierung der Linken diese hat täglich wachsen lassen. Hier fehlte Ihnen schlicht und ergreifend der notwendige politische Instinkt (vermutlich hatten Sie auch in Ihrer unmittelbaren Nähe die falschen Berater) für eine selbstbewusste Strategie, die diese Entwicklung hätte vermeiden können.

Zur Klarstellung: Die permanent von Ihnen öffentlich zitierte DKP als Ablehnungs- und Kampfargument gegen die Wahl der Linken hatte in ihren besten Tagen in Hamburg 0,3 Prozent, dies sind freundlich aufgerundet 2500 Stimmen. Die Linke ist von fast 50 000 Hamburgern (!!!) gewählt worden. Fragen Sie sich doch bitte einmal selbstkritisch, warum weit mehr als 40 000 Hamburger sich von Ihnen und unserer SPD nicht angesprochen, möglicherweise nicht ernst genommen fühlten?! So bitter notwendig die Aufarbeitung der Verwerfungen durch den SED-Staat auch immer ist, das Wahlverhalten der Enttäuschten der Gegenwart beeinflusst man dadurch allerdings nicht.

Nur eine Bürgerschaft ohne die Linke hätte Rot-Grün möglich werden lassen. Dann wären Sie Bürgermeister geworden. Dass dies nicht gelang, hat mit dem Kurt Beck kurz vor der Wahl nichts zu tun.

Nun zu Ihren 39 Prozent am Wahlabend: So gut wie alle Wahlumfragen in den letzten acht Wochen vor der Wahl zeigten, dass Rot-Grün keine Reanimationschancen hatte. Dies bedaure ich sehr, es ist aber Fakt.

Die SPD und Sie hatten in den letzten zwei Monaten vor der Wahl niemals die Chance, stabil die 35 Prozent zu knacken. Alle Umfragen der letzten Tage vor der Wahl platzierten die SPD zwischen 33 und 35 Prozent. An dieser Tendenz kurz vor der Wahl ändern auch die unveröffentlichten Stimmungsbarometer des NDR nichts.

Sie hatten also real niemals eine ernst zu nehmende Chance, 39 Prozent Wählerstimmen in die Scheune zu fahren. Mit Verlaub gesagt, dies ist ausschließlich Ihre ganz persönliche Illusion! Sie ist aber dann gefährlich, wenn die Hamburger SPD diese übernimmt.

Ihre Dolchstoßlegende soll Sie vermutlich entlasten für die Wahlniederlage. Vermutlich gibt es auch noch andere Gründe. Die Dolchstoßlegende schadet aber der Hamburger SPD, weil Sie den notwendigen politischen Klärungsprozess völlig verklärt. Sie bieten damit auch denen in der Hamburger SPD Schutz, die an diesem Klärungsprozess kein Interesse haben, weil deren persönliche politische Karriereinteressen einen Aufklärungsbedarf nicht vorsehen.

Dieser ist aber bitter notwendig.

Die SPD hat sich zu fragen, warum die letzten vier Jahre in der Opposition in Hamburg für sie definitiv "verlorene Jahre" waren. Dass sie es waren, hat der Wähler eindeutig entschieden.

Die Hamburger SPD hat sich umfassend einer Diskussion über ihren inneren Zustand (auch gerade nach den grauenvollen Ereignissen im Februar 2007) zu stellen, wie zuletzt nur die Hamburger CDU 1993.

Die Hamburger SPD muss sich fragen, wie sie sich überhaupt in den nächsten Jahren im politischen Diskussionsprozess dieser Stadt einen akzeptierten Spielraum für ihre Politikangebote erarbeiten will. Es kann nämlich passieren, dass sie überhaupt nicht mehr mitspielt.

Die SPD muss sich fragen, wie sie neue Mehrheitsbündnisse für sich ermöglicht. Sie hat ihr Verhältnis zum bürgerlich sozialliberalen Wählerbereich genauso neu zu sortieren wie zum linken Wählerbereich. Ich gebe dem Stellvertretenden Landesvorsitzenden der Grün-Alternativen Liste recht, wenn er feststellt, dass im Fünf-Parteien-System die einfache Rot-Grün-Variante ihre Zeit hinter sich hat.

Die Linke wird die ungefährdete Protestpartei in Hamburg sein. Da wird der Protest der SPD beschaulich wirken.

Schwarz-Grün dagegen wird in Hamburg als Aufbruch begriffen.

Ich selbst erinnere mich noch sehr, wie Unmögliches realisiert wurde und in NRW in den 60er-Jahren eine nicht für möglich gehaltene sozialliberale Koalition der Vorbote einer sich dann anbahnenden bundesrepublikanischen Entwicklung wurde.

Für diesen verdammt schwierigen Prozess brauchten die Hamburger Sozialdemokraten vieles und alles, nur am Anfang keine Dolchstoßlegende ihres ehemaligen Spitzenkandidaten. Es wird Zeit, dass Sie sagen, was ist: Die Wahlniederlage ist eindeutig, es ist das zweitschlechteste Ergebnis seit 1949. Auch ich übernehme die Verantwortung. Punkt!

Freundliche Grüße

Ihr Werner Dobritz

Hamburg, 1. März 2008


Werner Dobritz ist scheidender Bürgerschaftsabgeordneter der SPD.