Stuttgart. Der Hausmeister soll die Tonbänder gefunden haben, irgendwo in einem Karton im Keller des Gerichtsgebäudes. Auf den 21 Tonbändern verbergen sich die Originalstimmen der RAF-Gründer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, aber auch die letzte Aussage von Ulrike Meinhof vor ihrem Selbstmord im Mai 1976 in ihrer Zelle.
Die Aussagen sind zwar bekannt und lagern seit Jahrzehnten fein abgetippt und in Akten sortiert im Archiv der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. "Aber das gelesene Wort ist das eine, das gehörte Wort das andere", meint NDR-Journalist Thomas Schreiber. Bei den Recherchen zu der zweiteiligen ARD-Dokumentation "Die RAF" hatte "Spiegel TV" im Auftrag des NDR beim Oberlandesgericht nach den Bändern gefragt und die Suche angeschoben.
Die Stammheimer Aussagen aus der Zeit zwischen Oktober 1975 und Mai 1976 waren damals mit dem Einverständnis aller Beteiligten aufgenommen worden - ein Verfahren, das durchaus als ungewöhnlich bezeichnet werden darf. Die Bänder dienten weniger zur direkten Veröffentlichung als vielmehr zur Vorlage für eine rund 15 000 Seiten starke Mitschrift des Prozesses. Zu hören sind nicht nur die Aussagen der RAF-Terroristen aus dem Gerichtssaal, die Mitschnitte verdeutlichen auch die aufgeheizte Atmosphäre in dem schwer abgesicherten Prozessraum.
Schreie sind auszumachen, Unterbrechungen, die Stimmen der frustrierten Juristen, die Einwände der Anwälte und natürlich die Ausführungen der Terroristen - die verwirrte Meinhof, die glänzend formulierende Ensslin, der leicht lispelnde Baader. "Man hört diese Sprache, in der man nicht immer mit-, sondern oft auch gegeneinander gesprochen hat, und es wird eine weitere, eine emotionale Ebene geschaffen", meint Thomas Schreiber.
Insgesamt sollen nach Angaben von "Spiegel TV" nur noch etwa zwölf Stunden Mitschnitte aus dem Stammheimer Prozess existieren, der Deutschland über Monate in Atem gehalten hatte. Da die Bänder nach dem Abtippen für die Akten immer wieder überspielt wurden, sind die meisten Aussagen mittlerweile gelöscht. "Es handelt sich ja nicht um Beweismittel, sondern lediglich um Hilfsmittel zum Erstellen der Verfahrensprotokolle", erklärt Direktor Stephan Molitor vom Staatsarchiv Ludwigsburg.
Und auch das Oberlandesgericht (OLG) zeigte sich vom Fund Ende 2005 überrascht: "Unser Haus war eigentlich davon ausgegangen, dass keine Bänder mehr existierten", sagt OLG-Sprecherin Josefine Köblitz. Das eigentlich vorgesehene Löschen war nach dem Abschreiben wohl einfach vergessen worden. Nach langwierigen Verhandlungen seien die Bänder dann auf Wunsch des OLG in Kopie über das Staatsarchiv an die Dokumentarfilmer aus Hamburg herausgegeben worden.
Für "Spiegel"-Chefredakteur Stefan Aust lassen die Mitschnitte deutliche Rückschlüsse auf die psychische Verfassung der RAF-Terroristen zu. "Ein Tondokument übermittelt da eine ganz andere Authentizität", sagt Aust. Er wertet vor allem die noch vorhandenen Originaltöne Ulrike Meinhofs als Sensation: "Man merkt in ihrer Stimme die Verzweiflung und die Verwirrung", sagt Aust, der vor mehr als 20 Jahren bei der Recherche für seinen Bestseller "Der Baader Meinhof Komplex" bereits die Transkripte der Tonbänder studiert hatte.
Nach Ansicht Austs wird klar, wie sehr sich Ulrike Meinhof bereits von der RAF distanziert hat, wenn sie laut Mitschnitt unter anderem sagt: "Wie kann ein isolierter Gefangener den Justizbehörden zu erkennen geben, angenommen, dass er es wollte, dass er sein Verhalten geändert hat?" Meinhof hatte sich im Mai 1976 in ihrer Zelle erhängt.
Auch Ensslins Distanzierung vom RAF-Anschlag auf das Hamburger Springer-Hochhaus 1972 ist noch auf den Prozessmitschnitten erhalten. Sie verdeutlicht das zerrüttete RAF-System, das ansonsten stets für seine Verbrechen gemeinsam Verantwortung übernahm.
Einige der Mitschnitte sollen in der zweiteiligen ARD-Dokumentation "Die RAF" veröffentlicht werden (9. September, 21.45 Uhr, und 10. September, 20.15 Uhr). Andere Dokumente sind bereits im Internet über SWR2 zu hören: www.SWR2.de/archivradio