Deutschlands oberste Anklägerin spricht im Abendblatt über neue Drohvideos, die Bedeutung von Online-Durchsuchungen bei der Strafverfolgung - und über den Amoklauf von Winnenden.
Hamburg. Hamburger Abendblatt:
Frau Harms, der Amoklauf von Erfurt erschien einzigartig. Er war es nicht, wie die Ereignisse von Winnenden zeigen. Ist versäumt worden, die richtigen Konsequenzen aus der Bluttat von 2002 zu ziehen?
Monika Harms:
Nein, ich glaube nicht, dass es Versäumnisse gab. Bei dem Amoklauf von Winnenden - wie auch dem von Erfurt - handelt es sich um entsetzliche Tragödien, die in ihrer Sinnlosigkeit alles sprengen, was man menschlich nachvollziehen kann. Mein Mitgefühl gilt den Angehörigen und Freunden der Opfer, aber auch den Schülern, Lehrern, Polizeibeamten und Helfern, die mit dem Geschehenen konfrontiert wurden - und nunmehr mit diesen Bildern im Kopf leben müssen.
Abendblatt:
Wie kann man solche Schreckenstaten in Zukunft verhindern?
Harms:
Wenn es stimmt, dass viele Amokläufer zuvor höchst unauffällig waren, wird es eine schlüssige Erfolgsformel zur Vermeidung solcher Ereignisse nicht geben können. Eine Gewähr für völlige Sicherheit kann es ohnehin nicht geben.
Abendblatt:
Die Sicherheitsbehörden sehen in diesem Jahr - dem Jahr der Bundestagswahl - eine erhöhte Terrorgefahr in Deutschland. Welche Anhaltspunkte gibt es dafür?
Harms:
Es ist allseits bekannt, dass in diesem Jahr die Bundestagswahl und weitere Wahlen stattfinden. Wir haben seit Anfang des Jahres im Internet eine zunehmende islamistische Propaganda zu verzeichnen, die sich in deutscher Sprache auch an deutsche Bürger wendet. Diese Propaganda wird nicht ohne Grund gemacht, sondern zielt darauf ab, Entscheidungen zu beeinflussen.
Abendblatt:
Was wollen die Terroristen erreichen? Dass Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin ist?
Harms:
Es geht eher um Auslandseinsätze der Bundeswehr. Schon in der Vergangenheit hatten wir einzelne Drohvideos vor Bundestagsentscheidungen zur Verlängerung der Afghanistan-Mission zu verzeichnen. Islamisten wollten Angst und Schrecken verbreiten und die Abgeordneten beeinflussen, den Einsatz zu überdenken. Jetzt sehen wir Videos mit ähnlichen Botschaften in relativ kurzen Abständen. Das ist eine ernst zu nehmende Situation.
Abendblatt:
In den Sicherheitsbehörden fühlt man sich an die Anschläge von Madrid und den anschließenden Abzug der Spanier aus dem Irak erinnert.
Harms:
Jedenfalls ist die islamistisch motivierte Propaganda ein Phänomen, das vermehrt auftritt und das man ganz scharf im Blick behalten muss. Man muss bewerten: Ist die abstrakte Gefahr höher geworden? Steht konkret ein Anschlag bevor? Ich teile die Auffassung, die Verfassungsschutzpräsident Fromm und BKA-Präsident Ziercke kürzlich im Hamburger Abendblatt geäußert haben: Wir haben eine abstrakte Gefahr, die Anlass für erhöhte Aufmerksamkeit gibt. Aber wir haben keine Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr in dem Sinne, dass beispielsweise im September ein Anschlag geplant wäre.
Abendblatt:
Wäre Deutschland sicherer nach einem Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan?
Harms:
Ich bezweifle, dass wir sicherer wären, wenn wir das Feld für die Extremisten in Afghanistan freigäben. Im Übrigen kann niemand vorhersagen, wer wann zur Zielscheibe wird. Denken Sie nur an das kleine Dänemark nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen.
Abendblatt:
Sie haben einmal gesagt, Terroranschläge in Deutschland seien bisher "mit einem Quantum Glück" verhindert worden. Sind denn die Instrumente ausreichend, die der Gesetzgeber den Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt hat?
Harms:
Ich habe immer gefordert, dass die technische Ausstattung der Sicherheitsbehörden so erfolgen muss, dass wir auf Augenhöhe mit denjenigen sind, die unsere Freiheit bedrohen. Eine Verbesserung ist jetzt durch die Maßnahmen des BKA-Gesetzes erreicht worden - jedenfalls im präventiven Bereich. Man wird aber nicht darum herumkommen, auch für die Strafprozessordnung über neue Instrumente nachzudenken. Wir müssen die Erkenntnisse, die wir im präventiven Bereich über das BKA-Gesetz gewinnen, auch im Bereich der Strafverfolgung nutzen können.
Abendblatt:
Soll das allein für den Terrorismus gelten? Oder auch für andere schwere Kriminalität wie - sagen wir - den Drogenhandel?
Harms:
Ich wäre schon froh, wenn der Gesetzgeber in einem ersten Schritt die Strafprozessordnung für die Terrorismusbekämpfung ändern würde.
Abendblatt:
Bürgerrechtler und Datenschützer werden empört sein.
Harms:
Wer behauptet, Polizei und Staatsanwaltschaft wollten in jeden Computer hineinschauen, verkennt die Realität. Erkenntnisse aus diesen technischen Durchsuchungen werden nur in wenigen Fällen genutzt - und natürlich unter Wahrung der Beschuldigtenrechte im Ermittlungsverfahren. Aber mir kommen solche Diskussionen ohnehin etwas merkwürdig vor.
Abendblatt:
Merkwürdig?
Harms:
Einerseits regen sich die Leute über mögliche Online-Durchsuchungen auf, andererseits geben sie ihre Daten überall freigebig preis. Die meisten haben Kreditkarten, Paybackkarten, Tankkarten - sei es aus Bequemlichkeit, sei es um ein paar Euro zu sparen. Wenn ich sehe, was mit der IT-Technik alles möglich ist, wird mir manchmal schwindelig. Darin liegt ein unglaubliches Potenzial, uns zu durchleuchten. Wir sind gläsern geworden.
Abendblatt:
Wie gehen Sie privat damit um?
Harms:
Ich nutze weder Payback noch gebe ich meine ADAC-Karte für irgendwelche Sonderangebote heraus. Ich zahle auch nicht an jeder Supermarktkasse mit der Kreditkarte. Ich finde, das gute alte Bargeld ist manchmal ganz praktisch.
Abendblatt:
Das Bundesverfassungsgericht überprüft derzeit die Regelung, alle Telefonverbindungsdaten sechs Monate zu speichern. Ist die Vorratsdatenspeicherung zwingend notwendig?
Harms:
Sie kann ein wichtiger Ermittlungsansatz sein. Telefonverbindungsdaten sind im Übrigen auch schon früher gespeichert worden ...
Abendblatt:
... aber nicht so lange.
Harms:
Heute sind es sechs, früher waren es häufig drei Monate, oftmals aber auch mehr. Und kein Mensch hat sich darüber aufgeregt. Es müsste doch allen daran gelegen sein, dass Straftäter ermittelt werden.
Abendblatt:
Das Bundesverfassungsgericht hat schon mehrere Gesetze zur Terrorabwehr eingeschränkt. Verhindern die Richter einen effektiveren Schutz vor Anschlägen?
Harms:
Das Bundesverfassungsgericht hat seine Aufgaben und nimmt sie sehr verantwortungsbewusst wahr.
Abendblatt:
In Kürze beginnt der Prozess gegen vier Terrorverdächtige der sogenannten Sauerlandgruppe, die 2007 schwere Anschläge in Deutschland geplant haben. Welches Urteil erwarten Sie?
Harms:
Ich erwarte zunächst, dass am 22. April die Hauptverhandlung beginnt, die sicherlich ein bis zwei Jahre dauern wird. Man wird dann sehen, wie die Situation sich am Ende darstellt. Alle Verfahren dieser Art sind bisher sehr langwierig gewesen. Im Fall der "Sauerländer" ist die Beweislage aber recht günstig, weil die Ermittlungen sehr gut dokumentiert sind.
Abendblatt:
Das Bundeskriminalamt nimmt an, dass die Gruppe etwa 20 Islamisten umfasst hat. Sind sie noch aktiv?
Harms:
Bei der Zahl wäre ich vorsichtig. Als eigentliche Sauerlandgruppe sollte man in erster Linie die vier Männer bezeichnen, die jetzt vor Gericht stehen. Im weiteren Umfeld spielten Sympathisanten und Unterstützer der Islamischen Jihad Union eine Rolle. Soweit deren Verhaltensweisen strafrechtlich relevant sind, werden von uns Ermittlungsverfahren geführt.
Abendblatt:
Kann es sein, dass Mitglieder der Sauerlandgruppe wieder auf freien Fuß gesetzt werden?
Harms:
Zunächst einmal müssen wir abwarten, ob es zu einer Verurteilung kommt. Nach den Grundüberzeugungen dieses Rechtsstaats hat aber jeder Mensch - ganz gleich, welche Schuld er auf sich geladen hat - einen Anspruch darauf, dass ihm eine Freiheitsperspektive erhalten bleibt.
Abendblatt:
US-Präsident Obama will das umstrittene Gefangenenlager Guantanamo schließen. Was würde eine Aufnahme freigelassener Häftlinge in Deutschland bedeuten?
Harms:
Das ist schwer zu sagen. Wir müssten uns diese Fälle sehr genau anschauen. Soweit es im Einzelfall Anhaltspunkte dafür gäbe, dass irgendeinem dieser Leute strafrechtlich etwas vorzuwerfen ist, würden wir entsprechend ermitteln, soweit das in unsere Zuständigkeit fällt.
Abendblatt:
Ein deutscher Haftbefehl liegt bereits vor - gegen Ramzi Binalshibh, einen der Terrorplaner vom 11. September 2001. Werden Sie die Auslieferung nach Deutschland beantragen?
Harms:
Diese Frage stellt sich im Augenblick nicht. Binalshibh wird nach aller Wahrscheinlichkeit in Amerika angeklagt.
Abendblatt:
Glauben Sie, der Kampf - oder Krieg, wie die Amerikaner sagen - gegen den islamistischen Terrorismus ist jemals zu gewinnen?
Harms:
Wer nichts tut, hat schon verloren.