Jörg Ziercke nennt neue Zahlen zur Bedrohung: Etwa 85 Gefährder, die Anschläge begehen könnten, leben in Deutschland.

Hamburg. Abendblatt:

Herr Ziercke, seit wenigen Tagen gibt es eine neue Terrorbotschaft gegen Deutschland, im Januar sind schon vier dieser Drohvideos aufgetaucht. Gibt es weitere, die vom Bundeskriminalamt noch geprüft werden?

Jörg Ziercke:

Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst beobachten ständig verdächtige Internetseiten. Seit 2001 haben wir 30 bis 40 Verlautbarungen mit Deutschlandbezug registriert. Seit 2008 verzeichnen wir einen deutlichen Anstieg. Das neue Tonband werten wir aus.



Abendblatt:

Ist das eine neue Qualität der Bedrohung?

Ziercke:

Die Drohbotschaften sind viel professioneller geworden, und es gibt eine detaillierte Beschäftigung mit Deutschland. Das ist neu.



Abendblatt:

Auf einem Video und dem Tonband spricht der aus Marokko stammende Deutsche Bekkay Harrach ausführlich über deutsche Politik ...

Ziercke:

... und es kommt hinzu, dass Harrach anscheinend Kontakte bis in die Führungsebene von al-Qaida hat. Auch das ist neu. Gleichzeitig wissen wir, dass sich Personen aus Deutschland, unter ihnen auch Konvertiten, in Ausbildungslagern im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet aufhalten. Alles zusammen ist das eine Dimension, die unsere bisherige Einschätzung stützt, dass auf höchster Ebene der al-Qaida die Entscheidung gefallen ist, Anschläge auch in Deutschland zu begehen. Konkrete Hinweise auf Anschläge liegen uns derzeit jedoch nicht vor.



Abendblatt:

Wie groß ist die Gruppe derer, die sich in Terrorlagern haben ausbilden lassen und jetzt wieder in Deutschland sind - bereit, Anschläge zu begehen?

Ziercke:

Wenn wir etwa zehn Jahre zurückgehen, wissen wir von über 100 Leuten aus Deutschland, die in den Ausbildungslagern gewesen sind. Bei etwa 50 von ihnen sind wir sicher, dass sie in den letzten sechs, sieben Jahren dort waren. Im Moment gibt es eine Gruppe von sechs bis acht Terrorverdächtigen, die wir noch in den Lagern vermuten. 80 bis 85 Leute in Deutschland, von denen ein Teil in Ausbildungslagern war, stufen die Sicherheitsbehörden als sogenannte Gefährder ein. Nach meinem Empfinden wird die reale Bedrohung vielfach ignoriert.



Abendblatt:

Sollte das anders sein?

Ziercke:

Die Sicherheitsbehörden sind in Deutschland gut aufgestellt. Wir erlangen frühzeitig Hinweise, denen wir nachgehen. Die terroristischen Verdachtslagen, die sich daraus ergeben, gehen weit über die sieben Anschläge, die wir seit 2001 verhindert haben, hinaus. Das waren etwa zehn Mal so viele. Das heißt nicht, dass es dabei immer um konkrete Anschläge ging, aber aus solchen Verdachtslagen heraus sind wir der Sauerlandgruppe auf die Spur gekommen.



Abendblatt:

Die drei Hauptverdächtigen der Sauerlandgruppe wurden 2007 festgenommen, nachdem sie Anschläge gegen US-Einrichtungen in Deutschland geplant hatten. Sie sind jetzt angeklagt. Ist die gesamte Anschlagsplanung aufgeklärt?

Ziercke:

Ich habe immer betont, dass mit der Festnahme der drei Hauptverdächtigen die Gefahrenspitze in diesem Fall gekappt wurde. Der Kreis der Verdächtigen hat sich im Zuge der noch laufenden Ermittlungen aber sukzessive ausgeweitet und liegt zwischenzeitlich bei rund 20. Eine sichergestellte Datei haben wir bis heute nicht entschlüsseln können. Insgesamt haben wir ein Datenvolumen von vier Terrabyte beschlagnahmt. Deswegen ist die Online-Durchsuchung in solchen herausragenden Fällen für mich so wichtig, damit wir frühzeitig auf die Festplatte kommen und zielgerichtet Hinweise erheben können.



Abendblatt:

Was halten Sie von dem neuen BKA-Gesetz, das dem BKA zentrale Befugnisse zur Terrorabwehr gibt und die Online-Durchsuchung erlaubt?

Ziercke:

Zur Gefahrenabwehr für den Terrorismus halte ich es für ausreichend. Die Sicherheitsarchitektur in Deutschland ist durch die neuen Regelungen sinnvoll ergänzt worden. Das Instrument der Online-Durchsuchung haben wir bislang noch nicht eingesetzt, allerdings könnten wir auf Basis der entwickelten Grundsoftware jederzeit starten.



Abendblatt:

Mit wie vielen Online-Durchsuchungen pro Jahr rechnen Sie?

Ziercke:

Ich gehe von vier bis fünf Online-Durchsuchungen im Jahr aus. In der ganzen Debatte ist doch der Eindruck geschürt worden, als würden wir alle Computer mit Online-Durchsuchung überziehen wollen. Das ist Unsinn. Man braucht sie als letztes Mittel vor dem Hintergrund, dass im Terrorismusbereich heute die Daten verschlüsselt auf der Festplatte oder irgendwo im WorldWideWeb auf einem Server passwortgesichert gespeichert werden. Das ist im Vergleich zu früher eine völlige Veränderung der Tat- und Tätertypologie, die die Zukunft bestimmen wird. Ich bin gespannt, wie wir in fünf Jahren darüber diskutieren, wenn auch die organisierte Kriminalität sich der verschlüsselten Datenspeicherung und Kommunikation immer stärker bedient.



Abendblatt:

Sollen Online-Durchsuchungen dann auch für die Bereiche der organisierten Kriminalität möglich sein?

Ziercke:

Wir sammeln unsere Erfahrungen zunächst im Bereich der terroristischen Gefahrenabwehr. Inwieweit wir mit unserem strafprozessualen Instrumentenkasten an unsere Grenzen stoßen, wird die Zukunft zeigen. Wir werden wie bisher auch diejenigen Fälle dokumentieren und im politischen Raum vortragen, in denen es uns nicht möglich war, unsere Ermittlungen voranzutreiben.



Abendblatt:

Familienministerin von der Leyen will Kinderpornografie aus dem Internet verbannen. Das BKA soll entsprechende Websites sperren. Wie kann das funktionieren?

Jörg Ziercke:

Ziel ist es, den Zugriff auf Seiten mit kinderpornografischem Inhalt zu erschweren und so die Nachfrage danach einzudämmen. Geplant ist unter anderem, in den Fällen, in denen eine geblockte kinderpornografische Seite angesurft wird, eine Stopp-Seite einzublenden. Auf diese Weise wird dem Nutzer das Gefühl vermittelt, er sei erkannt worden.



Abendblatt:

Was für Kinder werden dafür missbraucht?

Ziercke:

Einer US-Studie zufolge zeigen 40 Prozent der kinderpornografischen Bilder Kinder zwischen drei und sechs Jahren. Auf rund 20 Prozent der Bilder sind Kinder unter drei Jahren zu sehen. Auch wir beobachten einen Trend hin zu immer jüngeren Kindern. Es ist unvorstellbar, was die Täter - in nicht wenigen Fällen die eigenen Eltern - den Kindern antun.



Abendblatt:

Wie viele Seiten müssten nach Ihrem derzeitigen Stand gesperrt werden?

Ziercke:

Derzeit gehen wir von etwa 1000 zu sperrenden Seiten aus. Wir greifen auf Erfahrungen anderer Länder zurück, die bestimmte Seiten bereits sperren. Unter anderem von ihnen bekommen wir die Internetadressen, die eine Rolle spielen. Das BKA wird die Adressen der Internetseiten erfassen und verwalten und den Providern zur Verfügung stellen, die die Seiten dann sperren müssen.



Abendblatt:

Kritiker, auch die Provider, bemängeln, dass mit der Sperrung der Seiten nicht lange nicht die Hintermänner gefasst sind ...

Ziercke:

Leider vermengen die Kritiker verschiedene Bekämpfungsansätze miteinander. Das Access-Blocking zielt darauf ab, den Zugang zu kinderpornografischen Seiten zu erschweren und damit die Nachfrage einzudämmen. Weniger Zugriffe bedeuten sinkende Gewinne der Anbieter und machen das Millionengeschäft mit Kinderpornografie weniger attraktiv. Gleichzeitig versuchen wir, die Kinder auf den Bildern zu erkennen, um sie aus den Fängen dieser skrupellosen Menschen herauszuholen. Auch da gibt es Erfolge. Im Übrigen haben auch die Kritiker bis heute keine Alternativvorschläge. Das Phänomen einfach zu ignorieren, ist keine Alternative. Diese Verbrechen müssen den Staat, müssen jeden Bürger interessieren. Deswegen begrüße ich es sehr, dass Frau Ministerin von der Leyen und Innenminister Schäuble sich so stark dafür engagieren. Für die nunmehr wiederholt vorgebrachten Bedenken gegen das Vorhaben habe ich kein Verständnis. Das Ausland zeigt, dass es funktioniert.



Abendblatt:

Die Provider fürchten allerdings zu viel Kontrolle, bezweifeln die Wirksamkeit der Sprerrungen, sehen Kosten und fordern eine Gesetzesänderung.

Ziercke:

Es reicht eine ernst gemeinte Selbstverpflichtung der Provider. Die Haftung wird das BKA für die Seiten übernehmen, von denen wir meinen, dass es sich um Kinderpornografie handelt. In Großbritannien haben die Sperrungen beispielsweise 40 000 Euro gekostet. Angesichts solcher Zahlen können die Finanzen meines Erachtens nicht das Thema sein.