Der NRW-Spitzenkandidat Norbert Röttgen sprach von einer Abstimmung über den Euro-Kurs der Kanzlerin - musste danach aber zurückrudern.
Berlin/Düsseldorf. Am Ende eines ganz besonderen Wahlkampftages traten die Kontrahenten sogar noch zweimal gemeinsam auf die Bühne: Norbert Röttgen, der Spitzenkandidat der NRW-CDU, traf am frühen Abend in Gelsenkirchen und später noch einmal in Mönchengladbach - nein, nicht auf die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, sondern auf Angela Merkel, die Bundeskanzlerin. Vor dem gemeinsamen Auftritt hatten sich die Vorsitzende der Bundes-CDU, Merkel, und der Vorsitzende der Landes-CDU, Röttgen, allerdings ein bemerkenswertes Fernduell über die Frage geliefert: Über wen wird am Sonntag an Rhein und Ruhr eigentlich abgestimmt?
Auch über Merkel, meint Röttgen. So las man im Kanzleramt jedenfalls völlig überrascht Meldungen, der Kandidat habe in Düsseldorf vor Journalisten erklärt, nach dem Wahlsieg des Merkel-Kritikers François Hollande in Frankreich stimme NRW in "neu zugespitzter Lage" auch über Merkel und ihren Sparkurs in Europa ab.
+++ Im Wahlkampf festgefahren +++
Das sieht die Kanzlerin ganz anders: wohl auch, weil die CDU dort in Umfragen abgeschlagen hinter der SPD liegt. Mit der absehbaren Niederlage will Merkel nicht identifiziert werden. Deshalb ging sie auf maximale Distanz: "Mit großem Befremden" hörten "Teile der Parteiführung" Röttgens Idee von einer Abstimmung über Merkel, wurde über die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" transportiert. Eine öffentliche Ohrfeige. Und eine deutliche Ansage: Röttgen soll seine Wahl gefälligst alleine verlieren.
Der Kandidat war geschockt. Röttgen konnte zuerst gar nicht glauben, dass die Kanzlerin ihn demonstrativ im Regen stehen ließ. Wollte die Kanzlerin ihn nicht mit neun Auftritten in NRW besonders oft persönlich unterstützen? Noch am Montagabend war sie im westfälischen Paderborn gemeinsam mit ihrem Umweltminister aufgetreten und hatte ihn anschließend auf ein kurzes Gespräch unter vier Augen beiseitegenommen. Dem Vernehmen nach kondolierte Merkel in diesem Gespräch Röttgen, dessen Schwiegervater in der vergangenen Woche gestorben war, und wünschte ihm Stärke in dieser außergewöhnlichen Belastungssituation für ihn und seine Familie. Seinen Wahlkampf soll Merkel hingegen mit keinem Wort kritisiert haben. Deshalb hatte das entsetzte Röttgen-Lager zuerst einen anderen in Verdacht: Der Fraktionsvorsitzende von CDU und CSU im Bundestag, Volker Kauder, habe eine alte Rechnung beglichen. Kauder versetzt Röttgen einen Dolchstoß?
Tatsächlich sind die beiden sehr unterschiedlichen Politiker politisch und persönlich in den vergangenen Jahren mehr als einmal aneinandergeraten. Doch der Fraktionsvorsitzende handelt in solchen gravierenden Fragen eigentlich nicht ohne Rücksprache mit seiner Kanzlerin. Und tatsächlich: Von Menschen, die das Ohr der Kanzlerin haben, war schon am Mittag zu erfahren, es habe sich beim Wink mit der "FAZ" um eine Art pädagogische Maßnahme gehandelt. So etwas wie ein Warnschuss: Zieh uns da nicht hinein!
+++ Kanzlerin Merkel verärgert über NRW-Wahlkämpfer Röttgen +++
CDU gegen CDU - der politische Gegner jedenfalls konnte sein Glück kaum fassen. Die Kanzlerin werde am Sonntag angesichts von Röttgens Niederlage ihre Politik für gescheitert erklären müssen, spottete der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel: "Ich nehme an, dass das das Ergebnis ist, das Herr Röttgen herbeiführen will." Aber zum politischen Gegner zählt im Fall Röttgens längst auch der liberale Koalitionspartner: "Wie Röttgen auf die Idee kommen konnte, die Landtagswahl zum Test für die Politik der Bundesregierung auszurufen, ist mir schleierhaft - zumal er sich im Wahlkampf ja immer mehr der SPD und den Grünen angenähert hat", ätzte Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) in einem bemerkenswerten Bruch der Kabinettsdisziplin. "Röttgen ist unser bester Wahlkämpfer", so Niebel: "Sein Zögern und Zaudern in der Frage, was er nach der Wahl macht, treibt die Wähler von der CDU zur FDP." Röttgen, der eine Debatte über Schulden und Nachhaltigkeit beginnen wollte, drohte plötzlich wieder der alte Streit darüber, ob er auch als Oppositionsführer nach NRW gehe.
Merkel mit reinziehen und gleichzeitig die FDP wuschig machen - diese Taktik empfand die Berliner Parteiführung als Zumutung. Erhärtet wurde der Verdacht, hinter der öffentlichen Rüge stünde tatsächlich die Kanzlerin, dann am Nachmittag. Der parlamentarische Geschäftsführer Peter Altmaier, ein Merkel-Mann, ließ sich von einer Nachrichtenagentur mit dem Satz zitieren: "Es geht am Sonntag in Nordrhein-Westfalen um die künftige Politik für das größte deutsche Bundesland." Und nicht um Europa oder Merkel, so die Botschaft.
Röttgen verstand. Der "Welt" sagte er jetzt: "Am Sonntag steht nicht der Kurs von Angela Merkel in Europa zur Abstimmung, sondern der Schuldenkurs von Frau Kraft in Nordrhein-Westfalen." Also doch kein Votum über Merkel. Der Landesvorsitzende beugte sich der Bundesvorsitzenden. Ein taktischer Rückzug. Röttgen wollte sich nicht seine gemeinsamen Auftritte mit der Kanzlerin verderben und darf nach diesem Nachgeben wohl auf ein besonders gutes Wort hoffen. Allerdings ging der Kandidat nicht so weit, seinen Anti-Schulden-Wahlkampf zu verleugnen, den er schon seit Wochen in den Zusammenhang der europäischen Schuldenkrise stellt. "Es geht um die Frage, welche Art von Politik sich durchsetzt: sparen oder Schulden machen. Und ob in Deutschlands größtem Bundesland eine Regierung abgewählt wird, die Verschuldung für Verantwortung hält und sich dabei auf die Seite derjenigen Kräfte in Europa schlägt, die zugunsten kurzfristiger Wahlgeschenke die Stabilität und damit die Zukunft des Euro aufs Spiel setzen", begründet Röttgen.
Und hier kommt dann selbstverständlich doch wieder die Kanzlerin ins Spiel: "Es geht am Sonntag um die Frage, ob in NRW eine Regierung gebildet wird, durch die Deutschlands Stimme in Europa gestärkt wird. Eine Regierung, die Angela Merkels Bemühen um den Fiskalpakt und die Schuldenbremse auch durch eigene Anstrengungen unterstützt. Mit der CDU in der Regierung werden wir einen solchen Kurs endlich auch in NRW durchsetzen." Mit dieser Sprachregelung war ein Kompromiss gefunden: Merkel muss nicht fürchten, in eine Niederlage hineingezogen zu werden. Röttgen darf bei seinen Inhalten bleiben. Und am Abend konnte man sogar gemeinsam von zwei Bühnen lächeln.