Grünen-Spitzenkandidatin Renate Künast über die Zukunft des Autos, Tricks beim Atomausstieg und den Wert sparsamer Elektrogeräte.
Berlin. Sie will die Hauptstadt regieren - und den Autoverkehr begrenzen. Im Abendblatt-Interview sagt die Berliner Spitzenkandidatin Renate Künast, warum sie die Grünen als Partei der Mitte sieht.
Hamburger Abendblatt: Frau Künast, liegt Berlin näher an Hamburg oder näher an Stuttgart?
Renate Künast: Laut aktuellem Fahrplan der Bahn liegt Berlin nur 1 Stunde 40 Minuten von Hamburg entfernt.
Sie dürfen die Frage politisch verstehen.
Künast: Der Erfolg der Grünen in Baden-Württemberg beflügelt uns. Ich will dafür sorgen, dass Berlin endlich prosperieren kann. Wir können mehr, als es der rot-rote Senat zulässt.
Woran würden die Berliner merken, dass Künast regiert - und nicht mehr Wowereit?
Künast: Zum Beispiel an unserer Qualitätsoffensive für sichere und saubere Schulen. An unserer Konzentration auf die Themen Bildung und Arbeit. Und daran, dass die Politik in Berlin wieder Schwung und Engagement bekommt. Zehn Jahre im Amt, das hat SPD und Linke ausgezehrt.
Muss Hamburg weniger oder mehr Geld in die Hauptstadt überweisen, wenn Sie im Roten Rathaus sitzen?
Künast: Es wird Gespräche zum Länderfinanzausgleich geben. Die geltenden Vereinbarungen laufen 2019 aus. Bis dahin müssen die Nehmerländer - auch Berlin - in einer besseren Situation sein.
Was können die Grünen in Hamburg und Berlin von Winfried Kretschmann lernen?
Künast: Winfried Kretschmann wird zeigen, dass und wie die Grünen Politik fürs Ganze machen. Das wird Maßstäbe setzen. Er ist der Richtige für ein Flächenland wie Baden-Württemberg. Meine Aufgabe wird es sein, dies für die Stadt Berlin unter Beweis zu stellen.
Kretschmann stört sich an den vielen Autos in Deutschland. In Berlin ist der Verkehr ziemlich dicht .. .
Künast: Winfried Kretschmann hat auf etwas sehr Grundsätzliches und zugleich Banales hingewiesen: Es kann kein unbegrenztes Wachstum des Autoverkehrs geben, sonst erstickt er an sich selbst. Dann ist das Auto kein Fahrzeug mehr, sondern ein Stehzeug. Das ist in São Paulo, Delhi und anderen Ballungsräumen schon heute zu besichtigen. Berlin ist zum Glück weit von solchen Zuständen entfernt. Aber auch hier müssen wir darangehen, Mobilität für alle nachhaltig zu sichern: mit einem besseren Bus- und Bahnverkehr, natürlich auch mit Autos - aber mit effizienteren und sparsameren als heute. Und er hat etwas Zweites gesagt, das uns allen klar sein sollte. Die heutigen Jobs im Automobilsektor halten wir nur mit mehr Elektroautos und neuen Mobilitätskonzepten.
Selbst SPD-Chef Gabriel, der frühere Umweltminister, hat Kretschmann widersprochen.
Künast: Das überrascht mich nicht. Es ist doch so: Die Grünen haben Sonne im Herzen, die SPD hat Benzin im Blut. Aber irgendwann wird es kein Benzin mehr geben.
Kretschmann ist auch bereit, die Suche nach einem Atom-Endlager auf den Süden auszudehnen ...
Künast: Gut so. Wir Grüne haben immer gefordert, die willkürliche Festlegung auf Gorleben aufzugeben. Wir brauchen eine ergebnisoffene und vergleichende Endlagersuche. Wir müssen die bestgeeignete Variante finden.
Die Ethikkommission, die Kanzlerin Merkel eingesetzt hat, will spätestens 2021 den letzten Reaktor vom Netz nehmen. Ein sinnvolles Ziel?
Künast: Das entspräche dem rot-grünen Atomausstieg von 2000, den wir gegen den Widerstand von Union und FDP durchgesetzt haben. Wir haben mit unseren Fachleuten ausgerechnet, dass der Ausstieg auch schon innerhalb der kommenden Legislaturperiode, also bis 2017, möglich wäre. Wichtig ist, dass endlich eine verbindliche Jahreszahl für die Abschaltung des letzten AKW festgelegt wird, damit die elende Trickserei der vier Atomkonzerne mit der Übertragung von Strommengen ein Ende hat. Wir lehnen auch die von manchen in der Union geforderte Revisionsklausel ab. Damit würden sich die immer noch zahlreichen Atomfreunde in Union und FDP ein Hintertürchen offenhalten. Der Atomausstieg muss unumkehrbar werden. Dann erleben wir einen Investitionsschub in erneuerbare Energien.
Kann Deutschland 2017 aus der Kernenergie aussteigen, ohne klimaschädliche Kohlekraftwerke zu bauen?
Künast: Ja, das geht.
Wie sieht dann der Energiemix aus?
Künast: Wir können den Anteil der Erneuerbaren am Strombedarf bis 2020 auf über 40 Prozent steigern. Unser längerfristiges Ziel ist der vollständige Umstieg auf Strom aus Wind, Sonne, Wasserkraft, Biomasse und Erdwärme. Dies können wir bis zur Jahrhundertmitte erreichen. Zum Ausgleich von Lastspitzen wird Gas mittelfristig noch eine Rolle spielen, während Atom, Kohle und Braunkohle bedeutungslos werden. Den Stromverbrauch wollen wir um mindestens 25 Prozent bis 2050 senken.
Fördern die Grünen den Ausbau des Energienetzes auf allen politischen Ebenen?
Künast: Wir müssen die Stromnetze forciert aus- und weiterbauen. Wichtig ist dabei, die Bürger frühzeitig und ernsthaft an der Planung zu beteiligen. Die Akzeptanz für die damit verbundenen Eingriffe in Natur und Landschaft wächst, wenn die Leitungen unter der Erde verlegt werden - und wenn die Menschen wissen, dass es nicht um den Weitertransport von Atomstrom geht.
Was wird der Strom 2017 kosten?
Künast: Das kann niemand seriös vorhersagen. Aber es ist ein gerne gepflegter Mythos, dass der Atomausstieg den Strom teurer macht. Fakt ist doch: Trotz 17 Atomkraftwerken ist der Strom immer teurer geworden. Und mancher Anbieter von Ökostrom ist sogar günstiger als die großen Konzerne mit ihrem Kohle- und Atomstrom.
Die Bürger dürfen auf billigeren Strom hoffen?
Künast: Nein, sinken werden die Energiepreise wohl nicht. Die Verbraucherinnen und Verbraucher können aber sparen, wenn sie weniger Strom verbrauchen und Strom effizienter nutzen. Wir müssen uns angewöhnen, beim Kauf von Elektrogeräten nicht nur auf den Kaufpreis zu achten, sondern auch auf den Stromverbrauch. Ein billiger Kühlschrank kann auf Dauer sehr teuer werden!
Linke Grüne fürchten, ihre Partei könnte zu bürgerlich werden ...
Künast: Das sind Schlagwörter. Also: Wir sind linke Mitte. Und das hat sehr viel mit demokratisch selbstbewusstem Bürgertum zu tun. Bürgerlichkeit ist für mich kein Schimpfwort, sondern Anspruch.
Betonung auf links oder auf Mitte?
Künast: Eine müßige Unterscheidung. Wir sind mehr in der Mitte der Gesellschaft mit unseren Konzepten als alle anderen, und darüber freue ich mich. Und nehme die Verantwortung an.
Die Wähler werden Sie noch mit Angela Merkel verwechseln.
Künast: Keine Sorge. Die CDU ist heute der Rand. Einer ihrer Wesenskerne war immer das Bekenntnis zur Atomkraft. Noch im Herbst hat sie mit viel ideologischem Trara die Laufzeiten um zwölf Jahre verlängert. Jetzt wird ihr schlagartig, aber endlich klar, dass das nicht mehrheitsfähig ist.
Ist Schwarz-Grün nach der nächsten Bundestagswahl immer noch ausgeschlossen?
Künast: Es gibt keinen Grund, über eine schwarz-grüne Bundesregierung nachzudenken.
Weil Merkels Wunschpartner, die FDP, jetzt wieder auf die Beine kommt?
Künast: Die FDP ist eine Boygroup - in jeder Altersgruppe. Alle reden über mehr Frauen, aber in der FDP werden sie beiseitegeschoben. Herr Brüderle hat die FDP in Rheinland-Pfalz unter fünf Prozent gebracht. Jetzt wird er als Teil der Erneuerung verkauft. Darauf muss man erst mal kommen.