Moskau. Der Streit über einen Friedensgipfel für die Ukraine geht weiter. Kremlchef Putin fühlt sich übergangen und gibt sich beim Treffen mit Gefolgsmann Lukaschenko siegessicher. Die Ereignisse der Nacht.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat die für die Ukraine geplante Friedenskonferenz in der Schweiz kritisiert. In der neutralen Schweiz soll am 15. und 16. Juni unter anderem auch über die sogenannte Friedensformel des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj verhandelt werden.
Russland werde dorthin nicht eingeladen, gleichzeitig werde zugegeben, dass sich ohne Moskau nichts entscheiden lasse, sagte Putin bei einem im Fernsehen übertragenen Treffen mit Belarus' Machthaber Alexander Lukaschenko.
„Und weil wir dort nicht hinfahren, wird nun gesagt, dass wir Verhandlungen ablehnen. Das ist ein echtes Panoptikum“, sagte der Kremlchef. Am Mittwoch hatte allerdings die russische Botschaft in Bern mitgeteilt, dass Russland selbst bei einer Einladung nicht an dem Treffen teilnehmen würde.
Nach Darstellung Putins hat sich die Ukraine mit dem Abbruch der Verhandlungen vor zwei Jahren - kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs - in die Ecke manövriert. Die Gegenseite habe gedacht, Russland könne auf dem Schlachtfeld besiegt werden. Dies habe sich aber als unmöglich herausgestellt. Russland sei zu Verhandlungen bereit, allerdings nicht über Schemen, „die nichts mit der Realität zu tun haben“, sagte Putin.
Kreml holt geplatztes Friedensabkommen aus der Schublade
Der Kreml sieht ein kurz nach Kriegsbeginn ausgehandeltes, letztlich aber gescheitertes Abkommen zwischen Russland und der Ukraine über einen Friedensschluss als mögliche Basis für eine neue Lösung - und stellt Zusatzforderungen. Die damals in Istanbul ausgehandelte Vereinbarung könne als Grundlage für neue Verhandlungen dienen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge.
„In unserer Verfassung sind nun neue Gebiete verankert, was vor zwei Jahren noch nicht so war“, schränkte er zugleich ein. Anlass der Äußerungen ist der Schweizer Vorschlag einer Friedenskonferenz, die aber zunächst vor allem mehr internationale Unterstützung für die Ukraine mobilisieren soll. Mit Moskau soll erst in einem zweiten Schritt gesprochen werden.
Ende März 2022, etwa einen Monat nach dem von Putin befohlenen Angriff auf die Ukraine, als sich andeutete, dass die von Moskau geplante Einnahme Kiews scheitern würde, einigten sich Unterhändler der Ukraine und Russlands bei Gesprächen in Istanbul auf ein vorläufiges Abkommen, um die Kampfhandlungen zu beenden. Später wurde bekannt, dass die Ukraine sich damals dazu bereit erklärte, auf den Nato-Beitritt zu verzichten und neutral zu bleiben.
Allerdings wurde die Vereinbarung nicht umgesetzt, unter anderem weil Unstimmigkeiten über Gebietsforderungen blieben. Russland hatte den Krieg mit dem Vorwand begonnen, die teils von prorussischen Separatisten kontrollierten ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk von der Herrschaft Kiews zu „befreien“. Inzwischen hat Russland in der Verfassung diese zwei Regionen wie auch die Gebiete Cherson und Saporischschja zu eigenem Staatsgebiet erklärt - obwohl es diese militärisch nur zu Teilen kontrolliert.
Bericht: Türkei bereitet neuen Friedensplan für Ukraine vor
Derweil erhöht sich vor dem Gipfel die Aktivität potenzieller Vermittler für eine Lösung in der Ukraine. Die Türkei will einem Medienbericht zufolge mit einer neuen Friedensinitiative den Krieg in der Ukraine für mehr als ein Jahrzehnt einfrieren. Der Plan, der mit Unterstützung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan lanciert worden sei, liege Kiew und Moskau bereits vor, schrieb die kremlkritische Zeitung „Nowaja Gaseta. Europa“ unter Berufung auf eigene Quellen.
Wichtigste Punkte des Dokuments sind demnach: Die USA und Russlands verpflichten sich, unter keinen Umständen Atomwaffen einzusetzen und zum Atomwaffenabrüstungsvertrag New Start zurückzukehren. Der Konflikt in der Ukraine wird auf der derzeitigen Frontlinie eingefroren. 2040 soll dann die Ukraine in einem Referendum über ihren weiteren außenpolitischen Kurs entscheiden - bis dahin wird sie nicht der Nato beitreten.
Putin rechtfertigt Beschuss ukrainischer Energieanlagen
Die Annahme des Plans gilt allerdings als unwahrscheinlich. Beide Kriegsparteien setzen weiter auf das Zermürben des Gegners. Beim Treffen mit Lukaschenko rechtfertigte Putin so auch die russische Kriegsführung.
Den anhaltenden Beschuss ukrainischer Energieanlagen durch das russische Militär bezeichnete er als nötige Antwort auf Angriffe Kiews. „Leider haben wir eine Reihe von Schlägen gegen unsere Energieobjekte beobachtet in letzter Zeit und waren gezwungen, darauf zu antworten“, sagte er. Der russische Beschuss ukrainischer Kraftwerke dient nach Darstellung von Putin einer „Demilitarisierung des Nachbarlands“, da sie den Ausstoß der Rüstungsproduktion beeinflussten.
In der Nacht zuvor hatte Russland mit schweren Raketenangriffen mehrere Wärmekraftwerke zerstört und einmal mehr zahlreiche Anlagen und Stromleitungen in der Ukraine beschädigt. Schon kurz nach Kriegsbeginn hat Russland mit diesen Attacken begonnen, die vor allem die ukrainische Zivilbevölkerung treffen.
Charkiw ordnet Zwangsevakuierung von Kindern an
Die besonders unter russischem Beschuss leidende ostukrainische Region Charkiw hat derweil die Zwangsevakuierung von Familien mit Kindern aus 47 grenznahen Ortschaften angeordnet. Es handele sich um Gemeinden in den drei Landkreisen Bohoduchiw, Isjum und Charkiw, teilte der Militärgouverneur des Gebiets, Oleh Synjehubow, per Telegram mit.
Die Gebietshauptstadt sei jedoch davon nicht betroffen. Anlass sei der beinahe tägliche Beschuss der Orte durch die russische Armee. Alle Betroffene erhielten die entsprechende humanitäre und juristische Hilfe, versprach er. Tags zuvor war ein junges Mädchen im knapp zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernten Dorf Lypzi im Landkreis Charkiw bei russischem Beschuss getötet worden.
IAEA-Chef sieht Gefahr von Atomunfall in Saporischschja
Die Gefahrenlage im russisch besetzten Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine verschärfte sich aus Sicht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zuletzt deutlich. Die jüngsten Drohnenangriffe auf die Anlage „haben das Risiko eines Atomunfalls signifikant erhöht“, warnte IAEA-Chef Grossi in Wien. In einer Sondersitzung des Gouverneursrates der IAEA forderte er militärische Entscheidungsträger und die Staatengemeinschaft dringend dazu auf, für Deeskalation zu sorgen. Vertreter Kiews und Moskaus gaben sich bei der IAEA-Sitzung erneut gegenseitig die Schuld für die Vorfälle.