Washington/New York. Fast 50 Jahre lang galt in den USA das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung. Vor einem Jahr kassierte das der Supreme Court. Abtreibungsgegner sind damit jedoch noch lange nicht am Ziel.
Carol Tobias erinnert sich noch genau an den Tag, als das Oberste Gericht der USA das Recht auf Abtreibung kippte. „Es gab viele Tränen der Freude. Viele Umarmungen, weil wir es nach einem 50-jährigen Kampf geschafft hatten“, sagt die Präsidentin der größten Anti-Abtreibungsorganisation in den USA, dem National Right to Life Committee.
Heute jährt sich die Entscheidung, mit der der Supreme Court ein politisches Erdbeben auslöste und die schwerwiegende Folgen für Frauen im ganzen Land hat. Doch für Abtreibungsgegner ist das erst der Anfang. „Wir haben ganz sicher noch einen langen Weg vor uns“, sagt Tobias.
Vor dem Urteil des Supreme Court waren Abtreibungen in den USA mindestens bis zur Lebensfähigkeit des Fötus erlaubt, also ungefähr bis zur 24. Schwangerschaftswoche. Dieses fast 50 Jahre lang geltende Recht kippte das Gericht mit seiner rechten Mehrheit. Nun liegt die Hoheit über die Gesetzgebung wieder bei den einzelnen Bundesstaaten - ein rechtlicher Flickenteppich ist entstanden. Inzwischen ist ein Abbruch in 14 Staaten nahezu unmöglich - in vielen anderen Staaten gibt es weitreichende Einschränkungen.
Es drohen Geldbußen und Gefängnisstrafen
In einigen Bundesstaaten gelten selbst Vergewaltigung und Inzest nicht als zulässige Gründe für einen Abbruch - auch Minderjährige können gezwungen werden, ein Kind auszutragen. Ausnahmen gibt es in der Regel nur in medizinischen Notfällen. Aus Angst, strafrechtlich belangt zu werden, scheuen sich allerdings viele Ärztinnen und Ärzte gänzlich vor der Prozedur. Die Entscheidung, ob ein Abbruch juristisch unbedenklich ist, wagen sie nicht zu treffen. Je nach Staat drohen hohe Geldbußen oder Gefängnisstrafen sowie der Entzug der Approbation.
Problematisch seien hier auch die oft vagen Formulierungen in den entsprechenden Gesetzestexten, sagt Susan Polan von der American Public Health Association. „Daher ist es für einen Arzt am einfachsten, die Entscheidung zu treffen: „Ich werde diesen Eingriff nicht durchführen, damit weder die Patientin noch ich, noch mein Krankenhaus in Schwierigkeiten geraten“.“ In der Folge müssen betroffene Frauen auch in Notfällen mitunter Tausende Kilometer weit dorthin reisen, wo Abtreibungen noch legal sind. „Die Menschen, die am meisten davon betroffen sind, (...) leben häufig bereits am Rande der Gesellschaft. Sie können nicht einfach in einen anderen Bundesstaat reisen“, so Polan.
Schwangerschaftsabbruch in den USA oft eine finanzielle Entscheidung
In den USA, wo sich Millionen Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen ohne Zugang zu einer Krankenversicherung oder gar Elternzeit befinden, sei die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch oft eine finanzielle. Somit trägt das Urteil laut Polan auch dazu bei, dass mehr Menschen in die Armut rutschen. Und sollten einzelne Bundesstaaten künftig Frauen kriminalisieren, die abgetrieben haben, könnte die Justiz versuchen, sie bei ihrer Rückkehr rechtlich zu belangen. Einige Abtreibungsgegner versuchen genau das zu erreichen - bisher werden in der Regel etwa die Ärztinnen und Ärzte belangt.
Vor allem die religiöse Rechte und weite Teile der republikanischen Partei versuchen in den USA seit Jahrzehnten, das Recht auf Abtreibung zu beschneiden. Dass der Supreme Court im vergangenen Jahr in ihrem Sinne entschieden hat, ist für sie nur ein Etappensieg - sie versuchen, den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen weiter zu beschränken. So haben sie es etwa auf Abtreibungspillen abgesehen, wie ein Rechtsstreit um die Pille Mifepriston zeigt, die nach einer Verschreibung auch per Post verschickt werden darf.
Abtreibungspillen haben nach dem Ende des Rechts auf Abtreibung an Bedeutung gewonnen. Abtreibungsgegner haben daher gegen die Zulassung von Mifepriston geklagt. Das Medikament ist seit mehr als zwei Jahrzehnten zugelassen und gilt als sicher. Auch dieser Rechtsstreit dürfte wieder vor dem Supreme Court landen, der unter dem früheren republikanischen Präsidenten Donald Trump weit nach rechts gerückt ist. Es gibt nur noch drei Richterinnen, die als liberal gelten. Dem gegenüber stehen sechs erzkonservative und teils sehr religiöse Richter, die zuletzt auch immer wieder im Sinne christlicher Kläger entschieden.
Mehrheit in den USA unterstützt begrenztes Recht auf Abtreibung
Die Demokraten von US-Präsident Joe Biden haben im vergangenen Jahr erfolglos versucht, das Recht auf Abtreibung landesweit per Gesetz zu verankern. Es fehlte ihnen die notwendige Mehrheit im US-Kongress. In Umfragen ergibt sich hingegen wiederholt ein deutliches Bild: Eine Mehrheit in den USA - rund 60 Prozent - unterstützt ein begrenztes Recht auf Abtreibung. „Das Drama in den Vereinigten Staaten besteht darin, dass es einen sehr klaren öffentlichen Konsens zum Thema Abtreibung gibt“, sagt Mary Ziegler. Die Rechtshistorikerin forscht an der University of California und ist eine der führenden Expertinnen in der US-Abtreibungsdebatte.
Ziegler sagt, genau hier zeige die US-Demokratie ihre Schwäche - politische Entscheidungen würden nicht unbedingt mit Blick auf den Willen des Volkes getroffen. „Und das ist gewöhnlicherweise ein Zeichen dafür, dass mit der Demokratie etwas nicht stimmt.“ Sie sieht in dem Vorgehen der Anti-Abtreibungsbewegung eine nationale Strategie. „Abtreibungsgegner versuchen, ein landesweites Verbot zu erzielen“, glaubt die Expertin und erklärt, dass dafür zum Beispiel ein Gesetz aus dem Jahr 1873 bemüht werden könne. Der sogenannte „Comstock Act“ untersagte einst das postalische Versenden pornografischer Inhalte und galt bis 1971 auch für Verhütungsmittel, wird aber längst nicht mehr vollstreckt.
Entsprechend interpretiert sei der alte Gesetzestext durchaus auf medizinisches Zubehör für Schwangerschaftsabbrüche oder die Abtreibungspille anwendbar, so Ziegler. Ein republikanischer Präsident könne so ein De-facto-Verbot durchsetzen, „ohne, dass der Kongress überhaupt ein Gesetz verabschieden muss“. Für Abtreibungsgegnerin Tobias ist der Kampf jedenfalls erst vorbei, wenn es keine Abtreibungen mehr gibt. „Ich sehe nicht, dass es einen Mittelweg geben kann nach dem Motto: Wir töten nur die Hälfte der Babys anstatt alle.“