Belgrad. Die Regierung in Belgrad will der EU beitreten, möchte aber auf den Beistand Russlands nicht verzichten. Droht ein Konflikt wie in der Ukraine?
Manchmal, wenn sich Regenwolken über Obrenovac auftürmen, zuckt Familie Ivanović kurz zusammen. Mit Regen und Sturm fing es an, vor knapp einem Jahr. Der Pegel des Kolubara stieg in einer Nacht mehrere Meter. Es regnete, tagelang. Und als das Wasser auch in ihr Haus strömte, flohen die Ivanovićs zu Verwandten.
Allein hier in Serbien starben 17 Menschen durch das Hochwasser, das im Mai 2014 viele Dörfer und Städte auf dem Balkan verwüstete. Fast die ganze Stadt Obrenovac, 30 Kilometer von Serbiens Hauptstadt Belgrad, stand 45 Tage unter Wasser. Die meisten der 50.000 Menschen wurden aus ihren Wohnungen gerettet. Als die Flut vorbei war und die Ivanovićs in ihre schmale Straße in Obrenovac einbogen, war ihr Haus zusammengebrochen.
Jetzt stehen sie am Zaun, hinter ihnen ihr neues Haus. Das Metall der Regenrinne glänzt, die Wände sind weiß. Drinnen ein Wohnzimmer, Sofa, ein Tisch, nebenan das Schlafzimmer, ein Bad. Nach der Flut zahlte die EU das Geld für Bauarbeiter und die Möbel. Sie haben das Haus der Ivanovićs neu aufgebaut. Eines von 108 neuen Häusern. Mehr als 700 wurden renoviert, elf Kilometer Straße erneuert, Dünger und Tierfutter in den Dörfern verteilt.
Die EU und die serbische Regierung haben viel Geld bereitgestellt. In der renovierten Schule von Obrenovac hängen kleine Schilder an Möbeln: „Donacija Evropske Unije“, ein Geschenk der EU. Es ist nur ein Teil von fast zwölf Milliarden Euro, die Serbien seit 2007 von den EU-Staaten als Hilfe auf dem möglichen Weg in Richtung Europäische Union erhalten hat. Eine Agentur lädt Journalisten im Namen der EU ein, die Ivanovićs und die neue Schule zu besuchen. Die Menschen sollen wissen, wer ihnen hilft. In Obrenovac, in Belgrad, an vielen Orten Serbiens. Ein neues Haus, es ist auch Werbung für Serbiens Weg in die EU.
Nur noch 44 Prozent der Serben stimmen für einen EU-Beitritt
Denn die EU hat ein Problem. Viele Menschen hier glauben, dass vor allem Russland ihnen in der Not hilft. Dass Geld und Rohstoffe aus Moskau nach Belgrad fließen. Dass dieser alte, große Bruder militärisch zur Seite steht, falls es im Konflikt mit dem Kosovo wieder ernst werden sollte. Auf einem Markt in Belgrad verkaufen Händler Putin-T-Shirts. Vom Kreml aus baut Russland eine Eurasische Union auf, eine Wirtschaftszone im Osten, als Gegenmodell zur EU. Und das wirft Fragen auf.
Welcher Union wird und soll Serbien beitreten, der Europäischen oder der Eurasischen? Könnte die Situation zwischen Russland und der EU auf dem Balkan eskalieren wie jetzt in der Ukraine? Und wo steht Serbien dann?
Geht es nach der derzeitigen Regierung, ist die Antwort klar, zumindest offiziell: an der Seite der EU. Ministerpräsident Aleksandar Vučić bekräftigte mehrfach, sein Land wolle bis 2020 der Union beitreten. Die Regierung in Belgrad drängt darauf, das erste Kapitel der Beitragsverhandlungen mit Vertretern der EU-Kommission zu öffnen. Serbiens Regierungschef will das Land gen Westen öffnen, nahm den Reformprozess auf, den EU und Internationaler Währungsfonds fordern. Ausgerechnet jener Vučić, der bis 2008 in der Partei der Ultranationalisten saß, will nun Serbiens Weg in die EU ebnen. Doch sein Volk zieht nicht mit. Im Gegenteil.
Die Zustimmung der Serben für den EU-Beitritt schwankt. Der Wert in den Umfragen ist gestiegen, als das Land dem visafreien Schengen-Raum beitrat. Dann sinkt die Zustimmung wieder, sobald der Konflikt mit dem Kosovo die Agenda bestimmt. Die frühere serbische Provinz erklärte sich 2008 für unabhängig, inzwischen ist der Kosovo von mehr als 100 Ländern als Staat anerkannt – nicht aber von Serbien. Derzeit stimmen in Umfragen noch 44 Prozent der Serben für einen Beitritt zur Europäischen Union. Und der beliebteste ausländische Politiker ist Wladimir Putin. Also zieht Serbien Ministerpräsident Vučić lieber nicht zu fest in Richtung EU. Im Gegenteil.
Im Oktober lud Vučić Russlands Präsident zum 70. Jahrestag der Befreiung Belgrads von der deutschen Wehrmacht ein. Für Putin ließ Vučić Panzer über die Straßen rollen und Soldaten durch die Hauptstadt marschieren. Eine Militärparade für Putin – in einer Zeit, in der die EU Druck auf Russland in den Verhandlungen für einen Frieden in der Ostukraine ausübt. Serbien erkennt die Souveränität der Ukraine an. Doch beteiligt sich die Belgrader Regierung nicht an Sanktionen gegen Russland. Man wolle aber ausdrücklich nicht von ihnen profitieren, etwa durch verstärkten Handel mit russischen Firmen.
Vertreter der EU waren über die Militärparade nicht erfreut. Drei Wochen zuvor lief eine andere Parade durch Belgrad: Gay Pride, eine Demonstration von Schwulen und Lesben. Polizisten schützten die Veranstaltung vor Schwulenhassern – und drückten so einen wichtigen europäischen Wert durch: Freiheit und Schutz von Menschen, die in vielen osteuropäischen Staaten noch ausgegrenzt werden. Zwei Paraden, zwei Signale in zwei Richtungen. Serbien sei für die EU. Aber die Regierung und die Menschen könnten nicht gegen Russland sein. Das müssten Europas Staaten verstehen. Vielleicht lässt sich so Serbiens Politik zusammenfassen. Doch wie lange geht der Sonderweg gut?
Seit Januar sitzt das Land der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vor. Ausgerechnet der Organisation, die nun die Grenze zwischen Russland und der Ukraine überwacht und die Waffenruhe kontrolliert. Der Vorsitz könnte Serbiens heikle Rolle verschärfen.
Es gibt weitere Schwachstellen im Land: Die Arbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent. Und man trifft kaum einen Serben, der sich nicht über Korruption aufregt. Viele junge Menschen, gut ausgebildet, gehen ins Ausland. Serbiens Fachkräfte zieht es nach Westen, Richtung EU und USA. Aber aus Russland fließt schnelles Geld. Moskau gewährte Serbien laut Finanzministerium günstige Kredite, 800 Millionen Dollar für den Eisenbahnbau. Bauprojekte sind wichtig in einem Land, in dem jeder zweite junge Mensch keine Arbeit hat. Serbien unterzeichnete zudem ein Freihandelsabkommen mit Russland. Der Wirtschaftsjournalist Milan Ćulibrk hebt hervor, dass sich seit den Sanktionen der EU gegen Russland nun ausländische Firmen aus dem Westen in Serbien ansiedeln – um dann zollfrei nach Russland zu exportieren. Ein Handel, der in den Statistiken erst auf den zweiten Blick auftaucht.
Doch gerade wirtschaftlich bedeute Russland für Serbien weit weniger als die EU, sagt die Belgrader Wirtschaftswissenschaftlerin Ana Trbović. Bis zu 90 Prozent der Exporte Serbiens gehen in Richtung Westen, die große Mehrheit in die EU, nur zehn Prozent nach Russland. Seit 2000 ist die EU nach Angaben der serbischen Regierung der größte Geldgeber, rund drei Milliarden Euro seien geflossen. 2013 waren es 208 Millionen Euro.
Der russische Energieriese Gazprom hatte Serbiens größten Ölkonzern mehrheitlich gekauft. Zu einem Preis unter Marktwert. Russland versprach dafür Aufträge über eine halbe Milliarde Euro für serbische Firmen beim Bau der Erdgas-Pipeline South Stream. Doch Russland hat das Projekt nun versenkt. Und Serbien steht ohne versprochene Investitionen da. Wirtschaftsexpertin Trbović sagt, dass Straßen und Brücken gerade erst auf dem Stand vor dem Jugoslawien-Krieg seien. Das Bruttoinlandsprodukt sei schwach, die Exporte gering. „Wir kommen nicht voran“, sagt Trbović.
Und doch sieht sie eine Chance: „Serbien ist ein kleines Land, das viel einfacher zu reformieren ist als ein großer Staat wie Griechenland.“ Als Standort könne Serbien Waren produzieren, für die sich große Fabriken im billigen Asien nicht lohnen. Produkte, die schnell in der EU verfügbar sein müssen, deren Mengen aber so niedrig sind, dass sie serbische Firmen stemmen können. Trbović denkt an Maschinenteile, aber auch Zulieferungen für spezielle IT oder Dienstleistungen wie Call-Center für westliche Konzerne.
Würde Politik nur mit Zahlen funktionieren, wäre der Beitritt zur EU für viele Serben vielleicht klar. Aber Politik funktioniert auch mit Gefühl. „Russland und Serbien haben eine platonische Freundschaft“, sagt der Journalist Bojan Brkić. Verbunden durch die Sprache, das Slawentum, den christlich-orthodoxen Glauben. „Aber fragen Sie mal einen Serben, ob er lieber in Moskau oder Frankfurt leben möchte.“ Die Antwort sei klar: Frankfurt.
Vielleicht liegt die Antwort auf die Frage, in welche Richtung es Serbien zieht, aber nicht in Frankfurt, sondern im Kosovo. Wer mit Menschen in Belgrad spricht, hört oft, dass der Kosovo zu Serbien gehöre. Beim Basketball-Spiel von Roter Stern Belgrad singen die Fans Parolen gegen Albaner, die mehrheitlich im Kosovo leben.
Im alten Verteidigungsministerium Jugoslawiens sind die Mauern eingerissen. Mehrere Etagen wurden bei Bombenangriffen der Nato zerstört. Erst das Eingreifen des Westens konnte 1999 ethnische Säuberungen durch Serben und den Krieg mit der kosovarischen Befreiungsarmee UÇK beenden. EU-Staaten wie Deutschland schickten ihre Luftwaffe, ohne Mandat der Uno. Die Ruinen halten die Erinnerungen der Serben an die Niederlage wach.
Russland erkennt das Kosovo nicht als unabhängigen Staat an
Dieser Westen übt nun Druck auf die Regierungen in Serbien und dem Kosovo aus, um die verhärteten Fronten zu befrieden. Mehrfach scheiterten Verhandlungen in Brüssel. Und doch schlossen beide Regierungen jüngst Abkommen, gegenseitige Staatsbesuche folgten. Doch der Dialog zwischen Serben, Albanern und dem Kosovo schwankt wie die Umfragen zum EU-Beitritt. Immer wieder vergiften nationalistische Parolen eine Aussöhnung. Die EU will Stabilität vor der Haustür. Als Belohnung winken Diplomaten in Brüssel mit dem Beitritt zur Europäischen Union.
Ende März, kurz vor dem 16. Jahrestag der Nato-Angriffe auf Serbien, demonstrieren ein paar Hundert Menschen in der Belgrader Innenstadt. Sie halten Plakate hoch: „Serbien und Russland – Wir brauchen keine EU“. Andere schwenken serbische und russische Fahnen, auf denen sich zwei Hände schütteln. „Brüder“ steht dort.
Dieser „Bruder“ Russland erkennt das Kosovo nicht an. Moskau verhindert eine Aufnahme des Kosovo in die Vereinten Nationen, Putin steht an der Seite all der Serben, die lieber näher an Russland sind als an der EU. Manche demonstrieren dafür. Und direkt hinter ihnen, im alten Verteidigungsministerium, klaffen die Löcher der Bombeneinschläge durch Nato-Angriffe.