Wohin steuert Russland nach der Annexion der Krim? Das politische Klima zwischen Ost und West ist deutlich abgekühlt. „Es geht nicht nur um die Ukraine“, hat Kanzlerin Angela Merkel kürzlich gesagt.
Anfang Juni des Jahres 2007 saßen die Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten im deutschen Seebad Heiligendamm westlich von Rostock in einem riesigen Strandkorb vergnügt beieinander. Die deutsche Kanzlerin saß direkt neben Wladimir Putin, ein Symbol der Partnerschaft. Der 33. G8-Gipfel vereinbarte unter anderem eine noch engere Zusammenarbeit des Westens mit Russland. US-Präsident George W. Bush und Putin sprachen über ein mögliches gemeinsames Raketenabwehrsystem. Just zu Beginn dieses Gipfels schrieb die prominente amerikanisch-polnische Politologin und Journalistin Anne Applebaum, verheiratet mit Radoslaw Sikorski, polnischer Parlamentspräsident und zuvor Außen- sowie Verteidigungsminister Polens: „Ob es ein Cyberkrieg gegen Estland ist, die Drohung, Litauen den Gashahn abzudrehen oder georgischen Wein oder polnisches Fleisch zu boykottieren – Putin hat in den vergangenen Jahren deutlich gemacht, dass er den russischen Einfluss auf die früheren kommunistischen Staaten Europas wiederherstellen will; einerlei, ob diese Staaten russischen Einfluss wollen oder nicht. Zugleich hat er klargemacht, dass er die westlichen Nationen nicht länger als freundliche Handelspartner betrachtet, sondern als Bedrohungen im Stil des Kalten Krieges.“ Die Einschätzung Applebaums, die auch an den US-Eliteuniversitäten Yale und Columbia gelehrt hat, erwies sich im Nachhinein als geradezu hellsichtig.
Zwar will der russische Autokrat im Kreml keine Sowjetunion 2.0, ihm schwebt eher ein zaristisches System mit der enormen Machtprojektion der UdSSR vor. Der Zusammenbruch der Sowjetunion wird von Putin, wie von vielen nationalistisch gesinnten Russen, nicht als Erlösung von einem Zwangsregime empfunden, sondern als demütigende Katastrophe. Der konservative US-Politologe Robert Kagan meinte, Europas Albtraum seien die 1930er-Jahre, Russlands Albtraum aber seien die 1990er-Jahre.
Russland sucht die Fehler nicht in den eigenen oft unzulänglichen Strukturen, sondern sieht die Verantwortung für die gegenwärtige Krise bei angeblichen Einkreisungsversuchen des Westens. Dabei wird übersehen, dass es die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten waren, die mit Macht in die Europäische Union und die Nato drängten, um sicher vor Russland zu sein. Offenbar nicht grundlos: „Wenn ich wollte, könnten russische Truppen in zwei Tagen nicht nur in Kiew, sondern auch in Riga, Vilnius, Tallinn, Warschau oder Bukarest sein“, soll Putin im September gedroht haben.
Wladimir Putins „gelenkte Demokratie“ im Inneren geht einher mit einem aggressiven außenpolitischen Kurs. Die völkerrechts- und vertragswidrige Annexion der Krim und der Einmarsch von mindestens 10.000 regulären Truppen in die Ostukraine sind neben der Abspaltung Transnistriens bislang die dramatischste Phase dieser Offensive. Es spricht zurzeit aber nichts dafür, dass Putin in ähnlich rüder Weise auch weitere Staaten unter Kontrolle bringen will. In diesen Fällen geht Putin, wie von ihm selber erklärt, mit einer russischen „Soft Power“ vor. Es ist eine Mischung aus einer politisch-militärischen Drohkulisse sowie der Ausnutzung wirtschaftlicher Abhängigkeiten und/oder des Vorhandenseins russischer Minderheiten sowie alter Bindungen an Russland.
Es war bemerkenswert, dass Putin auf die Polterei des irrlichternden russischen Politikers Wladimir Schirinowski, man solle den „Zwergstaaten“ Polen, Estland, Lettland und Litauen mit einem Atombombeneinsatz drohen, um sie gefügig zu machen, nur milde geäußert hatte, das sei zwar nicht die offizielle Regierungspolitik, bringe aber „den Laden in Schwung“. Russland will sich wieder mit einem Kordon abhängiger Staaten als Schutz gegen den Westen umgeben. „Es geht nicht nur um die Ukraine“, hatte Angela Merkel Mitte November auf dem G20-Gipfel in Sydney gesagt, „Es geht auch um Moldau, es geht auch um Georgien. Wenn das so weitergeht, muss man bei Serbien fragen, muss man bei den Westbalkanstaaten fragen.“
Im Kleinstaat Moldau hat sich nach den Wahlen vor einer Woche wohl eine Mehrheit für eine proeuropäische Regierung gefunden, doch der Kampf um dieses Land hat erst begonnen. Der „Spiegel“ berichtete, dass sich Putin am 10. Oktober beim GUS-Gipfel in Minsk mit wutverzerrtem Gesicht fast auf den moldauischen Präsidenten Nicolae Timofti gestürzt hätte, weil Moldaus Regierung ihre Pläne zur EU-Integration nicht mit Russland abgestimmt hatte. 79 Prozent der Moldauer sind rumänischsprachig, aber es gibt außer einer russischen Minderheit von sechs Prozent und acht Prozent Ukrainern insgesamt starke Sympathie für Russland. Ein Teil Moldaus, Transnistrien, spaltete sich mit russischer Hilfe 1990 ab, seitdem sind 1500 russische Soldaten dort stationiert. Dieser mafiöse „Staat“ ist nur von Russland anerkannt und nur aufgrund milliardenschwerer russischer Zuwendungen lebensfähig. Der Transnistrien-Konflikt gilt als lediglich „eingefroren“. Moldau könnte durchaus noch ein ähnliches Schicksal wie der Ukraine drohen.
Russland will die Annäherung an die EU stoppen, hat daher für Moldau lebenswichtige Importe von Obst, Gemüse und Fleisch gestoppt und droht zudem, die Energielieferungen zu kappen, auf die das ärmste Land Europas angewiesen ist, und die halbe Million moldauischer Gastarbeiter in Russland auszuweisen, die wichtiges Geld nach Hause bringen. Außerdem spielt Moskau mit den Unabhängigkeitsbestrebungen des Turkvolkes der Gagausen im Süden Moldaus.
Auch Georgien ist im Konflikt mit Russland, hat jüngst ein Assoziierungsabkommen mit der EU geschlossen und drängt in die Nato; was in der Allianz allerdings mit Zurückhaltung betrachtet wird. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatten sich die prorussischen Regionen Südossetien und Abchasien von Georgien abgespalten. Es kam wiederholt zu erbitterten Kämpfen. Russland trainierte örtliche Milizen in Südossetien, stellte Freischärlerverbände auf, provozierte Georgien durch das wiederholte Eindringen mit Kampfflugzeugen in den georgischen Luftraum und schoss eine georgische Drohne ab.
Anfang August 2008 ließ sich der georgische Staatschef Micheil Saakaschwili dann törichterweise zu einer Militäroffensive verleiten. Aus dem Kaukasus drangen daraufhin russische Truppen nach Georgien vor und schlugen die georgische Armee zurück. Moskau erkannte Südossetien und Abchasien als unabhängige Staaten an; doch Südossetiens „Präsident“ Eduard Kokoity erklärte als Ziel eine Vereinigung mit Russland. 95 Prozent der Südossetier haben inzwischen die russische Staatsangehörigkeit angenommen. Russlands Einfluss hier ist entsprechend stark. Das Muster des russischen Vorgehens in Georgien entspricht dem in der Ukraine und in Moldau: Teile des Landes zu besetzen, es von dort aus zu destabilisieren und somit eine Annäherung an den Westen zu hintertreiben.
Polen, wo sich nach Umfragen 45 Prozent der Menschen von Russland bedroht fühlen, und die drei Baltenstaaten sind ebenfalls im Visier des Kreml, doch ein aggressives Vorgehen verbietet sich hier durch die Nato-Mitgliedschaft dieser Länder. Zwar haben die meisten Staaten der Allianz seit Ende des Kalten Krieges gewaltig abgerüstet, während Russland seine Streitkräfte modernisiert hat. Das wirtschaftlich angeschlagene Land könnte sich dennoch eine ernsthafte Konfrontation mit der Nato nicht leisten. Doch zur russischen „Soft Power“ gehört auch der Versuch der Indoktrinierung russischer Minderheiten im Baltikum. So hat Estland eine starke Minderheit von gut 25 Prozent Russen, dazu kommen noch einige Prozente an Ukrainern und Weißrussen. In Lettland, 18. Mitglied der Euro-Zone, sind es sogar fast 27 Prozent Russen sowie fast sechs Prozent Weißrussen und Ukrainer. Russische Radio- und Fernsehsender vermitteln die besondere Sicht des Kreml. In Lettland gibt es Angst vor der Ukraine-Taktik Putins. Letten und Russen leben eher nebeneinander als miteinander, allerdings weitgehend problemfrei. Die Regierung bemüht sich, jeden Konflikt mit Moskau zu vermeiden. Jeder achte Einwohner ist ein meist russischer „Nicht-Bürger“, der keinen lettischen Pass besitzt. Putin hat mehrfach erklärt, im Ausland lebende Russen „schützen“ zu wollen. Allerdings sympathisieren bislang nur gut ein Drittel der russischstämmigen Letten im Ukraine-Konflikt mit Moskau.
Russland kann sich auf Sympathien unter anderem auch in Armenien, Usbekistan und Kirgisistan stützen. Traditionell auch im orthodoxen Bulgarien; doch dessen Staatspräsident Rossen Plewneliew hat Russland kürzlich als „aggressiven, nationalistischen Staat“ gebrandmarkt, der eine „Politik aus dem 19. Jahrhundert“ betreibe. Der russische Energiegigant Gazprom hatte versucht, das bulgarische Wirtschaftsministerium zum Erlass von Verordnungen im russischen Interesse zu drängen. Es sei ein Fehler Putins, die EU-Kommission zu unterschätzen, sagte Plewneliew. Bulgarien will seine Kampfjets künftig nicht mehr in Russland kaufen.
Im Blick hat Putin dafür neuerdings den teilweise ohnehin instabilen Balkan. Vor allem in Serbien und Bosnien-Herzegowina versucht der Kreml, mittels einer aggressiv antiwestlichen Propaganda und über das Instrument der Energielieferungen einen Keil zwischen den Balkan und den Westen zu treiben. Bei einem Staatsbesuch in Belgrad Mitte Oktober ließ sich Putin mit einer Militärparade feiern und erklärte, Serbien sei einer der Schlüsselpartner Russlands in der Region.
Vor allem rechtsextreme Serben hegen große Sympathien für Putins Politik; zahlreiche serbische Tschetniks kämpfen in der Ukraine aufseiten der prorussischen Freischärler. Serbien und Mazedonien sind die einzigen EU-Beitrittskandidaten, die die Sanktionen gegen Russland nicht mittragen.
Serbien steht am Rande des Staatsbankrotts, höhere russische Gaspreise könnten ein Desaster auslösen. Der CDU-Politiker Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, sagte, Russlands Vorgehen auf dem Balkan sei Teil einer breit angelegten Strategie, diese Staaten politisch und ökonomisch zu infiltrieren.
Der lettische Politiker Dr. Artis Pabriks, Mitglied des Europäischen Parlaments und zuvor Außen- sowie Verteidigungsminister und Vizeregierungschef des Baltenstaates, sagte gegenüber dem Abendblatt: „Putins politische Entwicklung war für uns eine viel geringere Überraschung als für viele Westeuropäer. Falls wir dabei versagen, für unsere Werte einzustehen, und glauben, dass diplomatische Gespräche allein seine Meinung ändern werden, so lägen wir falsch. Das russische Ziel ist ein schwaches, gespaltenes Europa, eine versagende EU und eine nicht existente transatlantische Zusammenarbeit – was Russland die Wiederherstellung seines Großmachtstatus erlauben würde. Wenn es um Russland geht, begreifen viele Europäer einfach nicht, dass die russische Elite und russische Politiker anders denken, dass sie nicht eine europäische Kultur in unserem Sinne repräsentieren. Das Baltikum ist ein Lackmus-Test bezüglich einer Sicherheit, die auf festem Boden steht – und nicht auf bloßen Beteuerungen, dass der Westen schon noch helfen werde, wenn wir in schwere Bedrängnis geraten. Wir fühlen uns derzeit wie Westberlin in den 60er-Jahren.“