Tatenlosigkeit der Regierung Erdogan im Kampf gegen den IS in Syrien treibt die Kurden auf die Straße. Dabei sterben 14 Menschen
Ankara. Wegen der schweren Unruhen in Diyarbakir strich die türkische Luftfahrtgesellschaft Turkish Airlines am Mittwoch alle Inlandsflüge von Ankara und Istanbul in die kurdische Millionenstadt im Südosten der Türkei. Auch die Züge zwischen den von Unruhen erschütterten Städten Adana und Mersin wurden eingestellt. In sechs Provinzen wurden nächtliche Ausgangssperren verhängt, und vielerorts blieben aus Sicherheitsgründen die Schulen geschlossen.
Es sind die jüngsten Anzeichen dafür, dass die Taktik der Regierung gegenüber den Kurden in Syrien – sie ausbluten zu lassen – die Türkei selbst in einen folgenschweren inneren Konflikt stürzen könnte. Am Mittwoch rief Ministerpräsident Ahmet Davutoglu eine Dringlichkeitssitzung seiner Sicherheitsbehörden ein, in der Nacht hatte Innenminister Efkan Ala mit „unberechenbaren Folgen“ gedroht, wenn die Demonstranten nicht umgehend nach Hause gingen. In Diyarbakir, Van, Batman und Mardin reichten die Polizeikräfte nicht mehr aus, um der Lage Herr zu werden. Erstmals seit vielen Jahren wurde die Armee dort eingesetzt.
Die ganze Nacht hindurch hatten überall im Südosten, aber auch in Ankara, Istanbul, Antalya, Eskisehir und Izmir Tausende kurdische PKK-Sympathisanten, islamische Extremisten sowie Nationalisten gegeneinander gekämpft. Von den extrem hart durchgreifenden Sicherheitskräften ganz zu schweigen. Von mindestens 14 Todesopfern war in vielen Medien die Rede, allein acht davon in Diyarbakir. Hunderte waren verletzt worden. 14 Tote – das war mehr als an manchen Tagen an der Front vor Kobane, im Krieg. Nicht weniger als 22 Städte wurden in dieser Nacht von gewaltsamen Ausschreitungen erschüttert.
Begonnen hatte alles mit wutentbrannten kurdischen Protesten gegen die Weigerung der Türkei, den belagerten Verteidigern der syrischen Kurdenstadt Kobane an der türkischen Grenze in irgendeiner Weise zu helfen. Es hätte genügt, die Grenze für viele Freiwillige zu öffnen, die hinüber auf die syrische Seite wollen, um die eingeschlossenen Verteidiger zu verstärken, aber daran hat Ankara offenbar kein Interesse.
Diese Blockade rief die Geister, die man schon überwunden geglaubt hatte, die Geister des langen, blutigen Krieges gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK). In den Städten des Südostens gingen Kurden nicht nur auf die Straße, sie griffen Büros und Fahrzeuge der türkischen Regierungspartei AKP an und steckten sie in Brand. Polizeifahrzeuge und Busse wurden abgefackelt, und derweil tauchten weitere, noch wüstere Gruppen in den Straßen auf: Islamisten, die ihre Unterstützung für den Islamischen Staat (IS) skandierten, und Nationalisten. Handfeuerwaffen und Messer wurden gezückt, eine Gruppe plünderte ein Waffengeschäft, um sich auszurüsten.
Die blutigste Schlacht lieferten sich in der Nacht jedoch zwei kurdische Gruppen: Zwischen Anhängern der PKK und der radikalislamischen, sogenannten türkischen Hisbollah, die vor allem aus streng religiösen Kurden besteht, kam es in Diyarbakir zu Feuergefechten. Diese „Hisbollah“ hat jedoch nichts gemein mit jener im Libanon. Eine Vorläuferorganisation wurde in den 90er-Jahren vom türkischen Militär gefördert und gegen die PKK eingesetzt, dann aber um das Jahr 2000 herum zerschlagen. Heute ist die Organisation wieder stark, kann mehr als 100.000 Anhänger mobilisieren und wird wohl teilweise von Islamisten in Deutschland finanziert und gelenkt.
Diese Organisation und ihre Partei Hüda Par stellen womöglich eine der gefährlichsten und am wenigsten bekannten Zeitbomben in der Türkei dar – denn sie befürworten den bewaffneten Dschihad. Der Grund, warum bislang wenig über sie berichtet wurde, ist wohl, dass sie bislang nicht gewalttätig in Erscheinung trat. Aber nur deswegen, weil „die Zeit noch nicht reif dafür“ sei. Möglicherweise reift sie ja nun heran, die Zeit des Dschihad in der Türkei, dank der Triumphe des IS in den Nachbarstaaten und der fortschreitenden Islamisierung in der Türkei selbst.
Mit internationaler Luftunterstützung konnten die Kurden immerhin den Vormarsch des IS auf Kobane bremsen – jedenfalls vorläufig. IS-Kämpfer hätten sich aus einigen Gebieten der Stadt zurückziehen müssen, berichtete das Syrische Beobachtungszentrum für Menschenrechte am Mittwoch. Seit Montag hätten die Luftangriffe der USA und ihrer Verbündeten bei Kobane 45 IS-Kämpfer getötet und fünf Fahrzeuge zerstört, berichteten Aktivisten. Etwa 20 Stellungen seien angegriffen worden. „Die Luftschläge haben geholfen“, sagte Idriss Nassan vom Komitee für ausländische Beziehungen in Kobane. „Es waren gute Angriffe, aber nicht so wirksam, wie wir es gerne hätten.“ Kobane sei nach wie vor in Gefahr. Das zeigte sich in der Nacht zu Donnerstag: Nach kurdischen Angaben rückte die radikale IS-Miliz in zwei Bezirke von Kobane ein. Die Islamisten seien mit schweren Waffen, darunter Panzer, in den Ort eingedrungen, sagte der hochrangige kurdische Politiker Asja Abdullah. Die Gefechte seien sehr heftig. Womöglich seien Zivilisten getötet worden. Ein weiterer kurdischer Politiker sagte, trotz anhaltender Luftangriffe der von den USA geführten Anti-IS-Koalition sei es den Islamisten gelungen, einige Gebäude am östlichen Rand der Stadt zu besetzen.
Der IS hat große Gebiete Syriens und des Iraks erobert. Die USA und mehrere Verbündete greifen ihn seit August im Irak und seit September auch in Syrien aus der Luft an. Im Irak schossen IS-Kämpfer am Mittwoch nahe der Stadt Beidschi mit einer Rakete einen irakischen Militärhubschrauber ab.