Geiseln mussten sich Enthauptungs-Videos ansehen. Innenminister Thomas de Mazière fordert gerechtere Verteilung der Flüchtlinge.
Kucuk Kenderciler/Ankara/Berlin. Eine Offensive der Terrormiliz Islamischer Staat im Norden Syriens treibt Zehntausende Kurden in die Flucht. Nach Uno-Angaben überquerten am Wochenende rund 70.000 Menschen die Grenze zur Türkei. Deren Rolle bei der Bekämpfung der IS blieb nach der geglückten Befreiung von 49 im nordirakischen Mossul festgehaltenen Geiseln unklar. Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Sonntag, Details über die Aktion würden geheim gehalten: „Es gibt Dinge, über die wir nicht reden können.“
Die syrisch-türkische Grenze wurde am Sonntag zeitweise geschlossen. Türkische Sicherheitskräfte gingen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen einige Dutzend kurdischer Flüchtlinge vor. Auf der syrischen Seite stauten sich die Menschen. In dem Chaos war Gefechtslärm von Kämpfen weiter im Landesinneren zu hören.
Nach Angaben der türkischen Polizei wollten die Grenzschützer verhindern, dass kurdische Kämpfer von der Türkei nach Syrien wechseln. Der türkische Privatsender NTV berichtete jedoch, einige der gestoppten Kurden hätten angegeben, sie wollten Hilfsgüter in die umkämpfte Region bringen. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, kurdische Demonstranten hätten Steine auf Sicherheitskräfte geworfen.
Aus Syrien flohen nach Angaben des Uno-Flüchtlingshilfswerks vor allem kurdische Frauen, Kinder und ältere Menschen. Der Zustrom halte an, sagte die Sprecherin. Sie rief die internationale Gemeinschaft zur Hilfe auf.
In der Türkei harren inzwischen 1,5 Millionen Menschen aus, die sich vor dem seit 2011 wütenden Bürgerkrieg in Syrien geflohen sind. In den vergangenen Tagen hatte die IS-Miliz im Norden Syriens Geländegewinne verbucht und zahlreiche kurdische Dörfer erobert.
Der syrisch-kurdische Flüchtling Mohammed Osman Hamme sagte der Nachrichtenagentur AP, er habe mit seiner Familie vor zehn Tagen die Flucht ergriffen, nachdem er gehört habe, dass IS-Kämpfer auf sein Dorf Darija in der syrischen Provinz Rakka vorrückten. Nach dreitägigem Fußmarsch hätten sie die Stadt Tell Abjad an der türkischen Grenze erreicht. In den Straßen dort hätten sie vier abgetrennte Köpfe hängen sehen.
Die USA hoffen nach Angaben aus Regierungskreisen, dass sich Ankara nach der Befreiung der 49 Geiseln stärker an der Bekämpfung der IS-Terrormiliz beteiligt. Die Geiseln – 46 türkische und drei irakische Mitarbeiter des Generalkonsulats der Türkei in Mossul – waren am Sonnabend in Ankara eingetroffen.
Enthauptungs-Videos zur Einschüchterung
Bislang hatte die türkische Regierung gegenüber der IS Zurückhaltung geübt, auch mit dem Verweis auf die Geiseln. Experten vermuten, dass sich daran wenig ändern wird. Türkei-Experte Aaron Stein vom Royal United Services Institute in London sagte: „Es wird einige Veränderungen geben, aber nicht so viele, wie einige hoffen.“.
Der freigekommene Generalkonsul Öztürk Yilmaz sagte, die Geiseln seien gezwungen worden, Videos von Enthauptungen anderer Gefangener anzusehen. Zwei US-Journalisten und ein britischer Entwicklungshelfer waren in den vergangenen Wochen von der Terrorgruppe vor laufender Kamera ermordet worden.
Syrien kritisierte scharf das von den USA geschmiedete Bündnis gegen die Terrormiliz. Parlamentspräsident Mohammed Dschihad Labham sagte, Washington sollte besser mit der syrischen Regierung zusammenarbeiten, als eine Koalition mit Staaten zu bilden, die Terrorismus unterstützen. Er meinte damit offensichtlich Saudi-Arabien und andere Staaten, die gegen Präsident Baschar al-Assad kämpfende Rebellen unterstützen.
Neue Kontingente sollen Flüchtlingsstrom lenken
Papst Franziskus beklagte bei einem Besuch in Albanien einen Missbrauch von Religion zur Rechtfertigung von Gewalt. Dies sei eine Perversion, sagte er – offenbar auch gemünzt auf Gruppen wie den IS.
Angesichts teils dramatischer Zustände für Flüchtlinge in Deutschland verlangt Innenminister Thomas de Maizière (CDU) eine gerechtere Verteilung von Asylbewerbern in Europa. „Es kann nicht sein, dass vier, fünf Länder die größte Anzahl der Flüchtlinge aufnehmen“, sagte er dem „Spiegel“. „Das entspricht nicht der erforderlichen gesamteuropäischen Solidarität, die wir hier dringend benötigen.“
De Maizière macht sich deswegen dafür stark, Flüchtlingskontingente auf alle EU-Mitgliedstaaten zu verteilen. „Wenn alle die verabredeten Regeln einhalten, könnten Länder wie Italien, wo überproportional viele Flüchtlinge ankommen, so freiwillig unter der Berücksichtigung der schon erfolgten Aufnahmen und zeitlich befristet entlastet werden.“
Auch Bundeswehr soll Gelände zur Verfügung stellen
Voraussetzung sei allerdings, schrieb de Maizière Anfang September in einem Brief an EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström, dass etwa in Italien „zügig diejenigen Personen erfasst werden, die Anspruch auf internationalen Schutz erheben können, und die Personen, die hierfür nicht infrage kommen, rasch in ihre Herkunfts- oder Ausgangsländer zurückgeführt werden“.
In dem Brief an Malmström forderte der Bundesinnenminister nach Informationen des ARD-Magazins „Report Mainz“ und des „Spiegel“ als „prioritäre Maßnahmen“ eine bessere Überwachung der EU-Außengrenzen und Migrationsströme, eine verstärkte Bekämpfung von Schleuserbanden sowie eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Transit- und Herkunftsstaaten.
Angesichts der steigenden Asylbewerberzahlen betonte de Maizière, die Aufnahmebereitschaft der Deutschen habe Grenzen. „Wir können nicht alle Armutsprobleme der Welt in unserem Land lösen. Priorität muss grundsätzlich die Verbesserung der Verhältnisse vor Ort sein, um den Betroffenen eine Perspektive in ihrer Heimat zu geben.“
Einen anderen Akzent setzte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) – er forderte im „Focus“ ein besonders starkes Engagement Deutschlands. „Zurzeit gibt es auf der Welt so viele Flüchtlinge wie seit 50 Jahren nicht mehr, da sind wir in der Pflicht“, sagte er. Deutschland gehöre zwar zu den EU-Ländern, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen. „Wir müssen uns aber vor Augen halten, dass andere Länder ganz andere Situationen verkraften müssen: Im Libanon und in Jordanien haben manche Städte und Gemeinden mehr Flüchtlinge aufgenommen, als sie Einwohner haben.“
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl erklärte am Sonntag, die Pläne de Maizières seien unrealistisch. „Die Menschen gehen dahin, wo ihre Verwandten sind, und wenn die in Deutschland leben und nicht in Italien, ergibt es auch keinen Sinn, sie dorthin zurückzuschicken“, sagte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt.
Schleswig-Holsteins Innenminister Andreas Breitner (SPD) sagte der Zeitung, das Kanzleramt solle kurzfristig zu einem „nationalen Flüchtlingsgipfel“ einladen. Zudem müsse der Bund finanzielle Unterstützung leisten. „Dazu kann auch gehören, verfügbare Liegenschaften, etwa der Bundeswehr, zu angemessenen Konditionen zur Verfügung zu stellen.“