200.000 Menschen sind vor der Terrormiliz IS im Nordirak geflohen. Ministerpräsident Nuri al-Maliki verliert weiter an Rückhalt
Bagdad. Die Lage der Flüchtlinge im Nordirak wird immer dramatischer. Noch immer seien 20.000 bis 30.000 Menschen im Sindschar-Gebirge eingeschlossen, teilte das Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Dienstag mit. Sie waren vor der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) geflohen. Der Sprecher des Zentralrats der Jesiden in Deutschland, Holger Geisler, sagte, viele der Flüchtlinge seien akut vom Tode bedroht. „Sie werden stündlich weniger“, erklärte er. „Sie sterben an Hunger und Durst oder weil sie Blätter oder Baumrinde essen und dadurch vergiftet werden oder daran ersticken.“ Laut dem Zentralrat kamen binnen nur eines Tages 300 Kinder um. Die Uno warnt zudem vor weiteren Massakern durch die IS-Miliz.
Seit Anfang vergangener Woche verließen nach Angaben des UNHCR rund 200.000 Menschen aus Angst vor den Gotteskriegern ihre Heimatorte. Die meisten von ihnen gehören der religiösen Minderheit der Jesiden an. In den vergangenen drei Tagen fanden laut UNHCR rund 50.000 Menschen in Syrien und in den kurdischen Autonomiegebieten im Irak Zuflucht. Viele hätten bei Temperaturen von bis zu 45 Grad einen Hitzeschlag erlitten, sagte ein UNHCR-Sprecher. Sie seien erschöpft und dehydriert. Die britische Luftwaffe versorgte die Flüchtlinge im Sindschar-Gebirge erneut mit Hilfsgütern.
Tausende Jesiden sind nach Angaben von Uno-Experten „der unmittelbaren Gefahr von Massakern“ durch die Terrormiliz ausgesetzt. „Es muss dringend alles getan werden, um massenweise Gräueltaten und möglicherweise gar einen Völkermord“ an Angehörigen der religiösen Minderheit zu verhindern, forderte die Uno-Sonderberichterstatterin für Minderheiten, Rita Izsák, in Genf. Den Vereinten Nationen lägen Berichte vor, wonach IS-Mitglieder systematisch Jesiden und andere Angehörige von Minderheiten oder Andersgläubige in die Enge trieben, sagte der für illegale Hinrichtungen zuständige Uno-Sonderberichterstatter Christof Heyns. Zugleich verwies die Uno-Berichterstatterin über Gewalt gegen Frauen, Rashida Manjoo, auf Informationen, IS-Mitglieder hätten Hunderte von Kindern und Frauen entführt und viele von ihnen vergewaltigt.
Im irakischen Machtkampf verliert Ministerpräsident Nuri al-Maliki zugleich immer weiter an Rückhalt. US-Präsident Barack Obama stellte sich klar hinter den vorgesehenen Nachfolger Haidar al-Abadi. Dessen Nominierung sei „ein hoffnungsvoller Schritt“, sagte Obama am Montag. Al-Maliki, der sich weigert, sein Amt abzugeben, erwähnte Obama dagegen mit keinem Wort. Nach den USA stellte sich auch der Iran hinter al-Abadi. „Der Iran wird die rechtmäßige Wahl des neuen Ministerpräsidenten unterstützen“, zitierte die Nachrichtenagentur Fars am Dienstag den Generalsekretär des iranischen Sicherheitsrats, Ali Schamchani.
Der Schiit al-Maliki war 2006 mit Unterstützung aus Washington und Teheran an die Macht gekommen. Nach seinem Sieg bei den Wahlen Ende April will er für eine dritte Amtsperiode wiedergewählt werden. Fast alle anderen politischen Kräfte lehnen das jedoch ab. Präsident Fuad Massum hatte deswegen nach einem wochenlangen Machtkampf al-Abadi mit der Regierungsbildung beauftragt.
Al-Maliki weigert sich dennoch, sein Amt aufzugeben. Al-Abadis Nominierung sei ein Bruch der Verfassung, sagte er. Am Sonntag hatte er an strategisch wichtigen Punkten in Bagdad zunächst ihm loyale Sicherheitskräfte aufmarschieren lassen. Am Dienstag wies er die Armee dann aber nach Angaben der Internetseite Shafaaq News an, sich aus dem Machtkampf herauszuhalten. Sie sollten die politische Krise dem Volk, den Politikern und der Justiz überlassen. US-Außenminister John Kerry rief al-Abadi dazu auf, rasch ein Kabinett zu bilden. Die Regierung in Bagdad müsse Entschlossenheit demonstrieren, sagte Kerry in Sydney. Zuvor hatten die USA im Norden des Iraks weitere Luftangriffe gegen die IS-Extremisten geflogen.
Nach mehrtägigen US-Luftschlägen zog das Verteidigungsministerium in Washington eine eher ernüchternde Bilanz: Die IS-Milizen seien noch nicht gestoppt, wohl nicht einmal ernsthaft geschwächt. Die Luftangriffe der USA haben nach Einschätzung des Pentagons den Vormarsch der islamistischen Milizen gebremst, aber bislang nicht aufhalten können. Man habe ihr „Tempo verlangsamt“, sagte Generalleutnant William Mayville. Doch die IS-Kämpfer seien „weiter darauf aus, größere Gebiete zu gewinnen“.
Der Islamverband DITIB hat das brutale Vorgehen der sunnitischen Miliz Islamischer Staat (IS) im Nordirak als unvereinbar mit der muslimischen Religion verurteilt. „Alle Muslime und die gesamte Menschheit sind gefordert, sich diesen unmenschlichen Übergriffen und Brutalitäten mit einer gemeinsamen, starken Stimme entgegenzustellen“, erklärte die Türkisch-Islamische Union (DITIB) in Köln.
Jahrhundertelang hätten die Muslime im Nordirak friedlich mit Jesiden und Christen zusammengelebt, betonte der Dachverband, der mehr als 800 Moscheevereine in Deutschland repräsentiert. Nun seien Christen und Jesiden „unmenschlichen Angriffen, Verfolgung und nahezu einem Massenmord“ durch die islamistischen IS-Kämpfer ausgesetzt. Auch Muslime verschiedener Strömungen würden von den „religiösen Eiferern und Fundamentalisten“ der IS-Milizen verfolgt und gefoltert. Schnellstmöglich müssten Lösungen für einen dauerhaften Frieden gefunden werden.
Der päpstliche Sonderbotschafter für den Irak, Kardinal Fernando Filoni, ist in den Irak aufgebrochen. Filoni soll in Bagdad im Auftrag des Papstes politische Gespräche führen. Anschließend reist er in die Autonome Region Kurdistan, wo Zehntausende Christen Schutz vor der Terrormiliz IS gesucht haben. Zudem hat Filoni den Auftrag, mit den örtlichen Bischöfen über Hilfsmaßnahmen und die Zukunft der Christen im Irak zu beraten. (HA)