Im Poker um den künftigen Kommissionspräsidenten spitzt der Machtkampf in Europa sich zu. Britische Regierung lehnt Wahlsieger ab.
Brüssel/London. Eine Woche nach der Europawahl ist die Zeit der diplomatischen Zurückhaltung vorbei. Im Ringen um die Besetzung des europäischen Spitzenamtes pocht der aussichtsreichste Kandidat auf seinen Anspruch. Jean-Claude Juncker, der mit der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) die Europawahl gewonnen hatte, will nun auch gegen Widerstände Präsident der EU-Kommission werden. „Europa muss sich nicht erpressen lassen“, sagte Juncker der „Bild am Sonntag“ (BamS). Er rief die Staats- und Regierungschefs der EU auf, sich über die Bedenken Großbritanniens, Ungarns, Schwedens und der Niederlande hinwegzusetzen.
Die Bundeskanzlerin hatte zu diesem Zeitpunkt Junckers Wunsch bereits beherzigt und sich am Freitag auf dem Katholikentag in Regensburg in größerer Klarheit als bislang hinter den Europa-Spitzenkandidaten auch ihrer Partei gestellt. Gleichwohl steuert die EU in den kommenden Wochen auf einen Konflikt um die Besetzung der Kommissionspräsidentschaft zu. Denn auch Junckers Gegner lassen nicht locker und wollen ihn verhindern – auch um den Preis, sich Erpressungsversuche vorwerfen zu lassen.
So hat Großbritanniens Premierminister David Cameron erstmals offen mit dem Austritt seines Landes aus der EU gedroht, sollte er sich mit seinen Forderungen in Brüssel nicht durchsetzen können. Im Streit um die Nachfolge von José Manuel Barroso als Präsident der EU-Kommission erklärte der Brite laut „Spiegel“, er könne den Verbleib seines Landes in der EU nicht garantieren, sollte Juncker Kommissionspräsident werden. Gleichzeitig soll Cameron den früheren Luxemburger Premierminister als „Gesicht der 80er-Jahre“ bezeichnet haben.
Ein Sprecher der Downing Street in London wollte den Bericht, der sich auf Teilnehmerkreise des EU-Gipfels vom Dienstag beruft, am Sonntag nicht kommentieren. „Wir geben keine Kommentare zu vertraulichen Gesprächen ab“, sagte der Sprecher. Juncker prägt seit drei Jahrzehnten, unter anderem als früherer Chef der Euro-Finanzminister, die Politik in Brüssel. Cameron wünscht sich stattdessen einen Reformer an der Spitze der EU-Kommission.
Juncker zeigte sich in dem BamS-Interview dennoch weiter zuversichtlich, der nächste Präsident der Kommission zu werden. „Im Europäischen Rat unterstützt mich eine breite Mehrheit christdemokratischer und sozialistischer Staats- und Regierungschefs“, sagte er.
Neben Großbritannien sollen dem „Spiegel“-Bericht zufolge vier der 28 Mitgliedstaaten – neben Großbritannien noch Ungarn, Schweden und die Niederlande – gegen Juncker sein. Laut „Bild am Sonntag“ hatte auch Frankreichs Präsident François Hollande versucht, Juncker zu verhindern. Er habe Merkel mitteilen lassen, dass er nach dem Wahlerfolg der rechtsradikalen Front National dringend ein Signal für seine Regierung brauche und einen Franzosen an der Spitze der EU-Kommission wolle.
Der Luxemburger hat die Mehrheit des neuen EU-Parlaments hinter sich
Die Mehrheit des frisch gewählten EU-Parlaments hat allerdings Juncker hinter sich, nachdem die Sozialisten und Sozialdemokraten um ihren Spitzenkandidaten Martin Schulz den Wahlsieg der Konservativen anerkannt hatten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die Juncker im Wahlkampf als Spitzenkandidat unterstützt hatte, hatte nach dem EU-Gipfel vergangene Woche zunächst ihre Rückendeckung für den Luxemburger aufgeweicht und erklärt, alles sei möglich. Cameron ließ sich danach als Sieger im Personalpoker feiern. Merkel löste damit jedoch eine in der Europapolitik selten gekannte Medienwut in Deutschland aus, die in dem ARD-Kommentar gipfelte, Merkels Verhalten sei „selten dumm“.
Die „Bild“-Zeitung hatte kommentiert, wenn Juncker nicht Kommissionspräsident werde, mache Merkel die Demokratie zu einer „Farce“. Die großen Parteienfamilien in Europa waren zur Wahl erstmals mit Spitzenkandidaten angetreten und stellten damit den Kommissionspräsidenten dem Volk zur Wahl. Gleichwohl liegt das Vorschlagsrecht für die Spitzenpersonalie noch immer bei den 28 Staats- und Regierungschefs.
Aus Sicht von Cameron steht Juncker für die in Großbritannien unbeliebte Devise „Mehr Europa“. Der Premierminister befürchtet, dass die Anti-EU-Stimmung in seinem Land noch mehr anschwillt. Bei der Europawahl hatten fast 30 Prozent der Wähler in Großbritannien die EU-feindliche Partei Ukip gewählt.
Cameron hat für 2017 ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der Union in Aussicht gestellt. Sollte Juncker Präsident der EU-Kommission werden, könnte der Druck auf der Insel so anschwellen, dass das Referendum vorgezogen werden müsste, zitiert das Nachrichtenmagazin den durch Camerons Äußerung entstandenen Eindruck. Dann sei ein Nein-Votum fast sicher. Cameron muss sich 2015 auch einer Parlamentswahl stellen.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) machte deutlich, Europas Spitzenpersonalien dürften nicht mit Zugeständnissen, etwa beim Euro-Stabilitätspakt, erkauft werden. „Das dürfen wir nicht miteinander verknüpfen“, sagte er dem „Focus“. Die Regeln in der EU müssten eingehalten werden. „Sonst verspielen wir jegliches Vertrauen. Regeln machen nur Sinn, wenn sie unabhängig von den agierenden Politikern Bestand haben.“