Ukrainische Armee startet neue Offensive gegen russische Separatisten. Doch die Regierung in Kiew steckt in einem Dilemma

Kiew. Am Freitag um 4.30 Uhr beginnen die ukrainische Armee und ein Bataillon der Nationalgarde ihre Offensive auf die von Separatisten kontrollierte ostukrainische Stadt Slowjansk. Am frühen Morgen schlägt eine Rakete nahe der 120.000-Einwohner-Stadt ein. Danach steigt Rauch in den Himmel, Sirenen in der Stadt heulen auf. Es ist das Startsignal für die Offensive der Regierungstruppen. Aufständische, bewaffnet mit Panzerfäusten und Raketenwerfern, schießen zwei Hubschrauber vom Typ MI-24 ab, teilt das Verteidigungsministerium mit. Zwei Piloten werden getötet und mehrere Besatzungsmitglieder verletzt.

Auf der Seite der Separatisten seien ein Aufständischer getötet und einer verletzt worden, sagt eine Sprecherin des selbst ernannten Bürgermeisters Wjatscheslaw Ponomarjow. Der Separatistenführer ruft in einem Video die Einwohner der Stadt zum Widerstand auf: Frauen und Kinder sollten zu Hause bleiben, sagt der Mann mit der schwarzen Wollmütze und den Goldzähnen. Die Männer sollten jedoch zu den Waffen greifen. „Unsere Stadt wird angegriffen, belagert, es gibt Verluste“, sagt Ponomarjow. „Ich denke, wir werden die Stadt verteidigen. Ich danke für Ihre Hilfe, wir werden siegen.“

Am späten Nachmittag erklärt Übergangspräsident Alexander Turtschinow, der gehe „nicht so schnell voran, wie wir uns das wünschen“. Der Grund sei, dass die „Terroristen“ sich in bewohnten Gebieten verschanzten und Zivilisten als Schutzschilde missbrauchten. Die Einsatzkräfte hätten alle Stellungen um die Stadt herum in ihre Gewalt gebracht und dem Gegner „schwere Verluste“ zugefügt, sagte Turtschinow. Es gebe „viele Tote, Verwundete und Gefangene“. Auf eigener Seite seien zwei Soldaten getötet und sieben verletzt worden. „Unsere Sicherheitskräfte kämpfen mit Söldnern fremder Staaten, Terroristen und Kriminellen, die Geiseln nehmen, töten und foltern, die mit Waffen in der Hand die territoriale Einheit sowie die Stabilität der Ukraine bedrohen“, sagt Turtschinow.

Nach dem Aufruf des „Volksbürgermeisters“ schlagen sich tatsächlich einige Bewohner auf die Seite der bewaffneten Aufständischen. Die meisten Einwohner ziehen sich jedoch verängstigt in ihre Wohnungen zurück. Läden und Kioske wurden geschlossen, das Stadtzentrum sei leer gefegt, berichten ukrainische Reporter. „Wir hören die ganze Zeit Schüsse“, sagt eine ältere Frau der Zeitung „Vesti“. Dennoch würden vereinzelt Leute auf die Straße gehen, um prorussische Aktivisten zu unterstützen. Der Verkehr in der umkämpften Region ist unterbrochen: Separatisten haben Bahngleise auf der Strecke zwischen Kramatorsk und Donezk besetzt. Slowjansk ist vom Militär eingekesselt, die Zufahrtsstraßen sind blockiert; der Ort ist auch per Zug nicht mehr erreichbar.

In der Stadt hält die selbst ernannte „Volksmiliz“ seit einer Woche rund 40 Geiseln fest, darunter mehrere Militärbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Unter den Beobachtern sind drei Bundeswehrsoldaten und ein deutscher Dolmetscher (siehe unten). Die Geiseln seien an einen „sicheren Ort außerhalb der Kampfzone gebracht“ worden, sagt Milizenführer Ponomarjow der „Bild“-Zeitung. Auch Journalisten geraten offenbar zwischen die Fronten. In Slowjansk werden ein Reporter der Webseite „Buzzfeed“, seine Übersetzerin und eine CBS-Journalistin zeitweise von Separatisten festgehalten, twittern Reporter.

Politiker in Kiew hatten in den vergangenen Tagen das Krisenmanagement von Übergangspräsident Alexander Turtschinow kritisiert: Der „Anti-Terror-Einsatz“ der Sicherheitskräfte sei bisher erfolglos geblieben. Mitte der Woche gestand Turtschinow ein, die Lage nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Mit der Offensive will die ukrainische Regierung nun verlorenen Boden zurückgewinnen. „Endlich spricht der Staat mit einer starken Sprache zu den Terroristen“, sagt Präsidentenkandidat Petro Poroschenko.

Interimspräsident Turtschinow unterzeichnet eine Verordnung, mit der die Wehrpflicht in der Ukraine wieder eingeführt werden soll: Bis Juli sollen wehrtaugliche Männer zwischen 18 und 25 Jahren kurzfristig in die Streitkräfte einberufen werden, heißt es in dem Regierungsbeschluss. Die 185.000 Mann starke ukrainische Armee ist schlecht ausgerüstet, kämpft mit veralteten Waffen und hat zu wenig Personal.

Kiew befindet sich in einem Dilemma: Einerseits steht die Regierung unter Druck, den drohenden Zerfall des Landes zu verhindern. Auf der anderen Seite könnte ein hartes Vorgehen gegen die Separatisten dem Kreml einen Vorwand für eine Militärintervention liefern. Präsident Wladimir Putin hat mehrmals erklärt, russische Bürger oder Interessen schützen zu wollen.

Russland kritisiert die ukrainische Offensive am Freitag scharf: Die Regierung in Kiew zerstöre mit dem Einsatz die „letzte Hoffnung“ auf eine diplomatische Lösung, sagt Putin. Kiew habe in den „Kampfmodus“ geschaltet und eine „Strafaktion“ gegen „friedliche Bürger“ gestartet, ergänzt sein Sprecher Dmitri Peskow. Putin entsendet seinen Vertreter Wladimir Lukin nach Donezk.

Ukrainische Politiker befürchten, dass die Lage im Osten des Landes in den kommenden Tagen weiter eskaliert. In der Ukraine und Russland stehen in der erste Maiwoche Feiertage an, die auch im Konflikt um die Ostukraine eine Rolle spielen. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg, könnten die Separatisten weitere Orte oder Regierungseinrichtungen besetzen. Am 11. Mai wollen die Separatisten in den Gebieten Donezk und Lugansk Volksabstimmungen abhalten: In einem ersten Referendum sollen die Bürger über die Autonomie der selbst ernannten Volksrepubliken Donbass und Lugansk abstimmen.

Ein zweites Referendum, das am 18. Mai stattfinden soll, stellt die Einwohner vor die Wahl zwischen der Unabhängigkeit der Regionen oder deren Anschluss an Russland. Bis dahin wollen die Separatisten möglichst viele Ortschaften unter ihre Kontrolle bringen. Die vom Kreml gesteuerten Separatisten handeln nach einem klaren Zeitplan: Sie wollen eine Unabhängigkeit der von ihnen besetzten Gebiete noch vor dem 25. Mai proklamieren. An diesem Tag soll in der Ukraine die Präsidentenwahl stattfinden. Russland will diese offenbar durch innere Unruhen oder gar einen Krieg sabotieren.