Kiew will Blauhelme im Osten des Landes und erwägt Volksabstimmung über eine Föderation
Kiew/Moskau. Die Gefahr eines neuen Blutvergießens in der Ukraine wird immer größer. Fast zwei Monate nach dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch und etwa 100 Toten am Maidan in Kiew wächst der Druck auf die vom Westen unterstützte neue Führung – viele Ukrainer beklagen ein wachsendes Chaos. Die Währung Griwna und damit auch die Ersparnisse verlieren täglich an Wert; die Preise – nicht nur für russisches Gas – steigen. Und im russischsprachigen Osten des Landes nehmen schwer bewaffnete Uniformierte ohne Hoheitsabzeichen immer mehr öffentliche Gebäude, darunter auch Polizei- und Geheimdienststellen, in Beschlag.
Landesweite Spezialtruppen aus Freiwilligen – früheren Soldaten und Polizisten und anderen mit Kampferfahrung – sollen jetzt helfen, die Einheit des Landes zu bewahren. Das kündigte Innenminister Arsen Awakow am Montag in Kiew an. Die proukrainischen Kräfte sollen Waffen erhalten und die Separatisten zum Rückzug zwingen.
Ein Ultimatum an prorussische Milizionäre in der Ostukraine zur Niederlegung ihrer Waffen verstrich folgenlos. „Wir bleiben auf unseren Posten“, sagte der Sprecher der Aktivisten in Lugansk, Alexej Tschmulenko, der Agentur Interfax. „Keiner von uns gibt auf.“ Als Reaktion darauf unterzeichnete der ukrainische Interimspräsident Alexander Turtschinow am Montag den Befehl für einen Spezialeinsatz. Was dies konkret bedeutet, blieb zunächst unklar.
Zuvor hatte sich Turtschinow vor dem Parlament in Kiew offen für ein nationales Referendum über eine Umwandlung des Landes in eine Föderation gezeigt. Er sei „nicht gegen“ eine solche Volksbefragung, die parallel zur für den 25. Mai geplanten Präsidentschaftswahl stattfinden könnte, sagte Turtschinow. Er zeigte sich zuversichtlich, dass sich bei dem Referendum eine Mehrheit der Ukrainer für eine „unteilbare, unabhängige, demokratische und geeinte Ukraine“ aussprechen werde.
Die Ukraine ist geteilt zwischen einem mehrheitlich ukrainischsprachigen Westen und dem überwiegend russischsprachigen Osten und Süden. Russland drängt Kiew daher seit Wochen, das Land in eine Föderation umzuwandeln, um den einzelnen Regionen mehr Autonomie zu gewähren. Die Kiewer Führung lehnte dies bisher ab, da sie den Zerfall des Landes befürchtete.
Turtschinow sprach sich am Montag auch für eine Stationierung von Uno-Blauhelmen im unruhigen Osten der Ukraine aus. Das sagte er in einem Telefongespräch mit Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon. Demnach erklärte Turtschinow, ukrainische Sicherheitskräfte und Soldaten der Uno könnten gemeinsam eine „Anti-Terror-Operation“ ausführen. Die Autorisierung einer solchen Mission durch den Weltsicherheitsrat gilt jedoch als faktisch unmöglich, da Russland in dem Uno-Gremium über ein Vetorecht verfügt.
Auch Präsidentenkandidatin Julia Timoschenko forderte die internationale Gemeinschaft zu „direkter militärischer Hilfe“ auf. Noch am Sonntagabend hatte die Politikerin eine militärische Lösung abgelehnt.
So mancher Beobachter in Kiew hat inzwischen das Gefühl, dass die auf Hilfe des Westens wartende Führung um Turtschinow „keinen Plan“ hat. Ist die Ostukraine schon verloren? Die Regierung kümmere sich nicht um Forderungen und Wünsche der Menschen dort, sagte der Kiewer Politologe Wadim Karassjow. Vor der Präsidentenwahl werbe kein Kandidat mit Reisen in den unruhigen Teil für Ruhe und eine einheitliche Ukraine. „Die Aufstände setzen sich fort. Wir können leider den Osten verlieren“, sagte Karassjow.
Die Führung in Kiew wie auch die EU und die USA machen weiterhin Russland für die zunehmend ausweglose Lage verantwortlich. Moskauer Agenten würden undercover mit gezielten Provokationen maximal destabilisieren. Eine Schuld Russlands scheint die einfachste aller möglichen Erklärungen – hissen doch Maskierte in vielen Städten im Gebiet Donezk, in Charkow und Lugansk russische Fahnen.
„Vieles deutet darauf hin, dass die in der Ostukraine aktiven bewaffneten Gruppen Unterstützung aus Russland erhalten“, sagte die stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung, Christiane Wirtz, in Berlin. „Wenn man sich das Auftreten, die Uniformierung und die Bewaffnung einiger dieser Gruppen ansieht, kann es sich kaum um spontan aus Zivilisten gebildete Selbstverteidigungskräfte handeln.“ Der britische Außenminister William Hague sprach von einer „eindeutigen Eskalation“ der Lage durch die Angriffe bewaffneter prorussischer Kräfte auf Verwaltungsgebäude in der Ostukraine. „Es kann eigentlich überhaupt keinen Zweifel daran geben, dass dies von Russland geplant und ins Werk gesetzt wurde“, sagte er.
Doch Moskau beteuert, damit nichts zu tun zu haben. „Wir mischen uns in die inneren Angelegenheiten der Ukraine nicht ein, das widerspricht unseren Interessen“, sagte Außenminister Sergej Lawrow.
Kreml-Chef Wladimir Putin verfolgt die unruhige Lage in der Ostukraine nach Angaben eines Sprechers mit „großer Sorge“. Der Präsident erhalte sehr viele Anfragen aus den Regionen nahe der Grenze zu Russland „mit der Bitte um Hilfe in dieser oder jener Form, mit der Bitte um Einmischung in dieser oder jener Form“, sagte Putins Sprecher Dmitri Peskow am Montag.
Der Anführer der prorussischen Separatisten im ostukrainischen Slowjansk forderte, Putin solle die „Volksrepublik Donezk“ unterstützen.
Derweil warf das US-Verteidigungsministerium der russischen Armee eine Provokation vor. Ein russisches Kampfflugzeug sei mehrfach in geringer Höhe an einem US-Kriegsschiff im Schwarzen Meer vorbeigedonnert. „Wir nennen das unprofessionell und provokativ“, sagte ein Beamter des Verteidigungsministeriums der Nachrichtenagentur dpa am Montag. Das US-Schiff war kürzlich wegen des Anschlusses der Krim an Russland in die Region beordert worden.
Als Reaktion auf die zunehmenden Spannungen in der Ostukraine weitet die Europäische Union ihre Sanktionen aus. Das kündigte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am Montag nach einem Treffen der EU-Außenminister in Luxemburg an. Nun werde erarbeitet, wer genau von den Maßnahmen betroffen sein solle. Bislang hat die EU 33 Ukrainer und Russen mit Einreiseverboten und Kontosperren belegt, die sie für die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich macht.
Bei ihrem Treffen hatten die Außenminister zuvor eine Finanzhilfe von einer Milliarde Euro für die vom Bankrott bedrohte Ukraine freigegeben und einer Streichung fast sämtlicher Zölle für Waren aus der Ukraine zugestimmt. Damit soll die Wirtschaft des Landes stabilisiert werden.