Die Experten schütteln den Kopf über ihn. Altkanzler Helmut Schmidt hat mit Verständnis für Putins Ukraine-Politik. Timoschenko will Präsidentin werden
Hamburg. Der Westen hat die Demokratiebewegung in der Ukraine stets unterstützt. Ob während der orangen Revolution 2004, in den vergangenen Monaten beim Umsturz in Kiew oder der russischen Okkupation der Halbinsel Krim – EU, Nato und die meisten deutschen Politiker standen auf der Seite der Maidan-Bewegung. Dabei ist diese keineswegs homogen, und manche ihrer Repräsentanten werfen Fragen auf, weil sie vom rechten nationalistischen Rand kommen. Oder wie Julia Timoschenko, die jetzt erklärt hat, bei der Präsidentschaftswahl am 25. Mai zu kandidieren. Dabei hat sie nicht nur eine umstrittene Vergangenheit als Geschäftsfrau und Politikerin, sondern fiel erst vor wenigen Tagen in einem abgehörten Telefonat mit der Aussage auf, sie sei mit Blick auf Russlands Präsidenten Wladimir Putin bereit, „eine Maschinenpistole zu nehmen und diesem Dreckskerl eine Kugel in den Kopf zu schießen“. Und die russische Minderheit im Land würde sie am liebsten per Atombombe auslöschen.
Für Diskussionen sorgen aber auch Thesen von Altkanzler Helmut Schmidt (SPD), der Verständnis für die Position Russlands gezeigt und das Vorgehen Putins auf der Krim verteidigt hat. Er habe Zweifel daran, ob es sich bei der Annexion der Krim wirklich um einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht handele, hatte er der „Zeit“ gesagt. Die Sanktionen bezeichnete er als „dummes Zeug“, und zwischen Historikern sei umstritten, ob es überhaupt eine ukrainische Nation gebe.
Der Hamburger CDU-Politiker Volker Rühe, Bundesverteidigungsminister von 1992–1998, sagte dazu dem Abendblatt: „Ich halte es für problematisch, zwischen Staaten und Nationalstaaten zu unterscheiden. Das Völkerrecht gilt für Staaten, und die Ukraine ist ein Staat. Den kann man nicht einfach amputieren. Die Ukraine ist sicherlich auf dem Wege zu einer Nation; aber das ist ein langer Prozess.“ Rühe fügte hinzu: „Da wir nicht für militärische Reaktionen sind, bleiben nur politische Reaktionen – nämlich die deutliche Ansage an Russland, dass die Annexion der Krim nicht akzeptiert wird – und, falls es noch zu weiteren Schritten Russlands kommt, ökonomische Sanktionen.“ Doch die beste Antwort an Putin seien im Grunde nicht Sanktionen, sondern die Ukraine zu einem erfolgreichen europäischen Staat zu machen.
Rühe, der seinen Respekt und seine freundschaftliche Verbundenheit gegenüber dem Altkanzler betont, sagte weiter: „Ich habe vor einigen Jahren zusammen mit Helmut Schmidt im Hamburger Thalia Theater ein neues Buch von ihm vorgestellt. Und ich meine mich daran zu erinnern, dass es darin eine Passage über die Ukraine gab, in der es sinngemäß hieß, sie gehöre zu Russland. Ich glaube, dass Helmut Schmidt emotional die Unabhängigkeit der Ukraine und den Beginn der Nationenwerdung – mit all ihren Problemen – nicht ausreichend zur Kenntnis genommen hat. Aber ich denke, dass ich mit ihm darin einig bin, Russland aufzufordern, seine Truppenkonzentrationen an der ukrainischen Grenze zu reduzieren und den Aufmarsch zu beenden.“ Rühe war bereits 2004 zu Beginn der orangen Revolution in Kiew auf dem Maidan und hat sich auch in mehreren ostukrainischen Städten über die Stimmung der Menschen informiert. Die ukrainische Zivilgesellschaft habe sich auf dem Maidan festgekrallt, „trotz des politischen Versagens von Juschtschenko, Timoschenko und Janukowitsch“. Er wisse jedoch nicht, ob der Weg zur Nation ein erfolgreicher sein werde. „Die Wähler der Ukraine haben zu entscheiden, aber wenn die Ukraine den Weg von Julia Timoschenko geht, die ein uneuropäisches Verhalten an den Tag legt, dann ist das sicher nicht der richtige Weg zu einem erfolgreichen europäischen Staat.“
Wer mit Politikern der SPD spricht, hört nichts von einer Gereiztheit über die Äußerungen von Schmidt. Dessen Meinung sei wichtig und werde gehört. Aber es heißt auch: Schmidts Äußerungen hätten auf die Entscheidungen in der Partei keinen Einfluss mehr. Zudem würde auch niemand in der Partei wie Schmidt Zweifel äußern über den Völkerrechtsbruch, den Russland auf der Krim begangen hat. Andere wie der Pinneberger SPD-Bundespolitiker Ernst Dieter Rossmann sagen dagegen: „Helmut Schmidt spricht aus, was viele in der SPD und in der Fraktion im Bundestag spüren: Die SPD hat die Tradition von Entspannungspolitik zu bewahren.“ Schmidt werbe mit seinen Aussagen um das Verstehen für die russische Position und um Respekt bei der Konfliktlösung. „Das ist keine Einzelmeinung.“ Rossmann attackiert auch die Grünen, die sich kritisch zu Schmidt geäußert hatten: „Die Grünen sollten sich besser nicht an der Person Schmidt abarbeiten, sondern inhaltlich die Debatte um Lösungen für die Krim-Krise vorschlagen.“
Der Außenexperte der Linkspartei, Jan van Aken, sieht in den Äußerungen Schmidts vor allem einen Bruch mit der offiziellen Linie der SPD: „Eigentlich wären die öffentlichen Äußerungen Helmut Schmidts nicht nötig, würde ein aktueller Parteichef Gabriel mal Klartext reden“, sagte van Aken dem Abendblatt. Aber Gabriel traue sich das leider kaum – wie auch viele andere Spitzenpolitiker. „Denn sobald jemand öffentlich auch einmal die Perspektive Russlands einnimmt, wird er gleich frontal von allen Seiten attackiert, selbst wenn dabei auch deutliche Kritik an Russland geübt wird. So haben wir es bei Matthias Platzeck und auch Sahra Wagenknecht erlebt.“ Kritik gegen den Westen oder an der alleinigen Schuldzuweisung an Putin seien in der Regierung tabu.
Aber auch viele in der SPD loben Schmidt und begrüßen dessen Äußerungen. „Schmidt ist immer gut“, sagt der Hamburger SPD-Bundespolitiker Johannes Kahrs dem Abendblatt. Sein Blick auf Konflikte mit seiner Lebenserfahrung und dem Wissen über Politik sei wichtig. Man schätze Schmidt sehr, heißt es in der SPD-Zentrale. „Wir sind auch stolz, dass wir als Partei noch so einen haben.“
Der Hamburger Bundestagsabgeordnete der Grünen, Manuel Sarrazin, will sich zur Rolle Schmidts und dessen Auftreten nicht äußern. Schmidts Position aber kritisiert er scharf: „Zu glauben, Sanktionen könnten nichts verhindern, ist naiv“, sagte er dem Abendblatt. Das System Putin lebe von exportabhängigen Bereichen der Wirtschaft. „Es rechtfertigt seine mangelnden Freiheitsrechte und Militarismus mit dem angeblichen wirtschaftlichen Erfolg Russlands. Hier kann die Weltgemeinschaft erfolgreich ansetzen.“
Auch der Hamburger Außenexperte der CDU, Jürgen Klimke, kritisiert die Äußerungen Schmidts. „Das Vorgehen Russlands auf der Krim widerspricht internationalem Recht. Dies ist ein Faktum, das ich anders als Helmut Schmidt bewerte“, sagte der Bundestagsabgeordnete dem Abendblatt. 1994 habe Russland die bestehenden Grenzen der Ukraine im Budapester Memorandum ausdrücklich anerkannt. Aber auch wenn er Schmidts Einschätzung von Putins Politik inhaltlich nicht teile, sagte Klimke auch: „Schmidt ist nicht zu alt, um die Weltpolitik von heute zu verstehen.“