Bis zu 100 Tote soll es bei den Kämpfen zwischen Opposition und Polizei in Kiew gegeben haben. Der Widerstand gibt sich unbeugsam
Kiew. Der Kiewer Maidan ist schwarz von den verbrannten Reifen und Molotowcocktails. Auf dem Boden liegen Glasscherben und Patronenhülsen. Auf den Stufen der Institutskaja-Straße, die zum Regierungsviertel führt, sind Blutspuren. Hier liegen selbst hergestellte Schutzschilde, viele aus Sperrholz. Das ist kein Schutz gegen scharfe Munition, mit der hier am Donnerstag geschossen wurde. Einer der Schilde wurde von einer Kugel durchschlagen, an den Rändern sind Blutspritzer zu sehen. Ob der Mensch, der versuchte, sich hinter diesem Stück Holz zu verstecken, noch lebt?
Wie die Gewalt derart eskalieren konnte, ist noch unklar. Die Opposition wirft der Polizei gezielte Provokationen vor. Die Ordnungskräfte sollen angeblich die Musikschule in Brand gesetzt haben. Gegen neun Uhr am Morgen rückten die Demonstranten auf dem Maidan nach vorn, die Polizei zog sich zurück und schoss dabei mit scharfer Munition. Bei den schweren Zusammenstößen von Polizei und Demonstranten in Kiew sind seit Dienstag 67 Menschen ums Leben gekommen, unter ihnen auch Polizisten. Das bestätigte das ukrainische Gesundheitsministerium am Donnerstagabend auf seiner Internetseite. 356 Verletzte würden derzeit in Krankenhäusern behandelt. Damit wurden am Mittwoch deutlich mehr Menschen getötet als an den beiden Tagen zuvor.
In der Lobby des Hotels Ukraine an der Ecke der Institutskaja-Straße wurde eine Notaufnahmestation eingerichtet. Links und rechts stehen OP-Tische. In eine Ecke, die mit weißen Laken abgeschirmt ist, werden Tote gebracht, und es werden immer mehr. „Heute hatten wir ausschließlich Verletzte durch scharfe Munition“, sagt Medizinerin Olga Bogomolez. „Geschossen wird sehr professionell, sodass Ärzte kaum Chancen haben, Menschen zu retten. Den Opfern wurde entweder in die Halsschlagader oder direkt ins Herz getroffen. Wenn Menschen nicht schwer verletzt sind, geben wir sie Freiwilligen, damit sie sich bei ihnen zu Hause ausruhen. Wir geben sie nicht in die Krankenhäuser, denn dort werden sie von der Polizei festgenommen“, sagt Bogomolez.
Die Regierung bestritt noch am Donnerstagmittag, dass die Polizei scharf geschossen hat. Die Sicherheitskräfte seien nur mit „speziellen Mitteln“ bewaffnet gewesen, während Protestler angeblich scharf geschossen haben sollen, hieß es in einer Erklärung vonseiten des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Der hatte jedoch den Einsatz von scharfer Munition legitimiert. Der geschäftsführende Innenminister Vitali Sachartschenko erklärte, dass Polizisten Gewehre und Munition erhalten hätten und berechtigt seien, diese einzusetzen. Er gab den Oppositionsführern Schuld an der Eskalation: „Sie behaupten, mit den Radikalen nichts zu tun zu haben, aber sie stiften sie zur Offensive an und können sie danach nicht mehr kontrollieren.“
Der Schock über die blutigen Zusammenstöße, de facto einen Krieg auf den Straßen der Hauptstadt, trifft allerdings auch Abgeordnete der Regierungspartei. Zehn Delegierte der Partei der Regionen gaben am Donnerstag eine Erklärung ab, in der sie die Polizei dazu aufriefen, „keine verbrecherischen Erlasse auszuführen und scharfe Munition einzusetzen“. Der Bürgermeister von Kiew, Wolodymyr Makejenko, erklärte gar seinen Rücktritt aus der Partei. „Die Ereignisse, die heute in der Hauptstadt der Ukraine passieren, sind eine Tragödie für das ganze ukrainische Volk“, sagte er in einer Videobotschaft, die an den Präsidenten Janukowitsch gerichtet war. „Kein Oligarch und kein Politiker ist gestorben, und ich als Kiewer Bürgermeister bin damit beschäftigt, Dutzende einfache Menschen zu begraben. Ich schlage jedem Abgeordneten unabhängig von der Parteizugehörigkeit vor, sich in eine Menschenkette zwischen den ukrainischen Bürgern in Uniform und denen in Zivil zu stellen, damit die Kämpfe und das Blutvergießen aufhören.“
Janukowitsch traf sich derweil mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sowie mit den Außenministern Polen und Frankreichs. Nach Angaben der ukrainischen Agentur RAR hat Janukowitsch das Treffen für ein Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verschoben. Die EU-Minister hatten laut RAR versucht, Janukowitsch dazu zu überreden, frühzeitig seine Amtszeit zu beenden. Der Gewalt dürfte auch eine solche Ankündigung keinen Abbruch tun. Immer offensichtlicher wird, dass die Oppositionsanführer Vitali Klitschko, Arsenij Jazenjuk und Oleg Tjahnibok die gewaltbereiten Demonstranten nicht mehr im Griff haben.
Die radikale Gruppe Rechter Sektor erklärte hingegen, dass sie „alles tut, um Blutvergießen zu stoppen“, wenn die Polizei nicht mehr schieße und Janukowitsch zurücktrete. Diese Erklärung verbreitete der Anführer des Rechten Sektors, Dmitro Jarosch, sie wurde auch vom Koordinator der Bürgerwehren Selbstschutz des Maidans, Andrij Parubij, unterzeichnet. Um sich vor neuen Angriffen zu schützen, bauten die Demonstranten eilig weitere Barrikaden. Vor dem Ukrainischen Haus, das Demonstranten wieder besetzt haben, plante eine Gruppe von Männern mit Helmen und Panzerwesten dessen strategische Verteidigung gegen die gefürchteten Spezialeinheiten der Polizei.
Die relative Ruhe am Donnerstagnachmittag war für sie nur eine Pause im Krieg, der ohne Zweifel weitergeführt wird. „Was für ein Waffenstillstand? Die Regierung glaubt, sie kann mit der Opposition verhandeln, aber die Opposition steuert das Volk nicht“, sagte einer der Männer. „Das Volk wird zunächst die Regierung stürzen und dann der Opposition zeigen, wo es langgeht.“ Er sagt, er gehöre zu keiner bestimmten Gruppe, es gebe diverse „Volksvereinigungen“, die auf dem Maidan aktiv seien. „Sie sind bereit, den Krieg zu führen, bis der Präsident zurücktritt.“