Die Brüder Zarnajew wollten mit einem entführten Auto von Boston zum Times Square fahren. Der Fahrer erlebte eineinhalb Stunden zwischen Todesangst, erschreckend banaler Dialoge und schwarzem Humor.
Boston/Berlin. Danny hatte seinen nagelneuen Mercedes SUV gerade am Bordstein der Bostoner Brighton Avenue geparkt, um eine Nachricht auf seinem Handy zu tippen. Vorschriftsmäßig, ahnungslos. Plötzlich wurde er Teil des Albtraumes rund um den Marathonlauf in der Ostküstenmetropole. Quietschende Bremsen schreckten den 26 Jahre alten chinesischen Unternehmer auf. Eine alte Limousine kam gegen 23 Uhr am vergangenen Donnerstag hinter seinem Geländewagen zum Stehen. Ein Mann in dunkler Kleidung stieg aus, kam zum Fenster auf der Fahrerseite, klopfte und sprudelte los, hektisch, unverständlich. Danny ließ die Scheibe herunterfahren. Ein Fehler.
Der Mann langte mit einem Arm in den Fahrerraum, entriegelte die Tür, öffnete und hielt dem jungen Mann eine silbern glänzende Waffe unter die Nase. „Sei nicht blöd“, sagte der Mann zu Danny und fragte, ob er die Nachrichten zum Boston-Marathon gehört habe. Danny hatte. Auch die Fahndungsfotos der Ermittlungsbehörden hatte Danny gesehen. Deshalb wusste er auch, wer da mit einer Waffe vor ihm stand.
„Ich habe das getan, Mann“, sagte der dunkel gekleidete Mann, der später als Tamerlan Zarnajew identifiziert werden sollte. „Und ich habe gerade einen Polizisten in Cambridge erschossen.“ So berichtet „Boston Globe“-Reporter Eric Moskowitz über einen der womöglich wichtigsten Zeugen in einem zukünftigen Terrorprozess. Nicht gegen Tamerlan, denn der wurde auf der Flucht erschossen. Aber gegen seinen 19-jährigen Bruder und mutmaßlichen Mittäter Dschochar Zarnajew, der sich im Krankenhaus von seinen schweren Verletzungen erholte.
Von dort wurde er am Freitag ins Gefängnis verlegt. Er sei in die medizinische Abteilung einer Haftanstalt in Devens im US-Bundesstaat Massachusetts überstellt worden, teilten die Behörden mit. Gründe für die Verlegung oder Details zum Zustand des 19-Jährigen wurden nicht genannt.
Tamerlan ließ seinen Bruder zusteigen und befahl Danny zu fahren. Im „Boston Globe“ schließt Danny, der nur seinen amerikanischen Spitznamen gedruckt wissen will, einen großen Teil der bisherigen Zeitlücke zwischen dem Mord an dem 30-jährigen Cambridge-Polizisten Sean Collier, der seine Ehefrau und ein sechs Monate altes Baby hinterlässt, und dem Showdown im rund 15 Kilometer von Boston entfernten Watertown, den Tamerlan nicht überleben sollte.
Es sind eineinhalb Stunden zwischen Todesangst angesichts der grauenvollen Taten der beiden Brüder, erschreckend banaler Dialoge und schwarzem Humor. Es sind eineinhalb Stunden, in denen Danny sein Leben retten kann, weil er die Ruhe bewahrt und die beiden Attentäter in belanglose Konversation verstricken kann. Die drei jungen Männer unterhalten sich über Mädchen, Kreditbeschränkungen für Studenten, den Mercedes ML 350, das iPhone 5 und darüber, ob eigentlich noch jemand CDs kaufe. All das diskutieren die beiden 26-Jährigen und der der sieben Jahre jüngere Dschochar Zarnajew auf ihrer Fahrt durch die Nacht. Wie in einem Tarantino-Film.
Plötzlich eskaliert die Situation. Danny beobachtet Straßen, Schilder und – die Gesichter der Täter. „Schau mich nicht an“, schreit Tamerlan. „Wirst du dich an mein Gesicht erinnern?“ „Nein, nein, ich erinnere nicht“, beteuert Danny. Tamerlan lacht. „Es ist so wie bei den weißen Jungs: Sie sehen schwarze Jungs und denken, sie sehen alle gleich aus. Vielleicht denkst du ja auch, dass alle weißen Jungs gleich aussehen.“
„Genauso ist es“, antwortet Danny wider besseres Wissen. Die zweite brenzlige Lage entsteht, als Dandys Handy vibriert: Sein Mitbewohner macht sich Sorgen, wo er bleibt – auf Chinesisch. „Wenn du ein einziges Wort auf Chinesisch sagst oder schreibst, töte ich dich“, droht Tamerlan. „Ich schlafe bei einem Freund heute Nacht“, antwortet Danny auf Englisch.
Die Brüder diskutieren offen darüber, ob sie nach New York fahren sollen. Offenbar wollten die Brüder weitere Sprengsätze am Times Square zünden. Das sagte Dschochar Zarnajew den Ermittlern. Danny versuchte, auf die Fragen der beiden freundlich und unverdächtig zu antworten während er jede Nuance, jede Stimmlagenveränderung der beiden Brüder zu deuten und interpretieren versucht, ob und wann sie ihn töten werden. „Mein Tod war so nahe“, berichtet der Chinese, dessen Leben bisher in ruhigen und erfolgreichen Bahnen verlaufen war. Aus einer zentralchinesischen Provinz schaffte er es nicht nur bis zum Hochschulabschluss an der Northeastern University, sondern auch in ein Start-up-Unternehmen am Bostoner Kendall Square. „Ich wollte nicht sterben. Ich hatte noch so viele unerfüllte Träume.“
Danny, der Kleinunternehmer mit dem geleasten 50.000 Dollar teuren Wagen, gab vor den beiden Brüdern den chinesischen Studenten mit der hohen Leasingrate und den Sprach- und Integrationsschwierigkeiten eines zugezogenen Mitglieds einer ethnischen Minorität. Das Auto machte er älter als es ist, seinen Wohlstand spielte er herunter. „Ach deshalb ist dein Englisch so seltsam“, befand Tamerlan. „Du bist Chinese. Okay. Ich bin Muslim.“
Nach einer zermürbenden Zickzackfahrt ergab sich für Danny die Chance zur Flucht. Als Dschochar an einer Tankstelle bezahlte und Tamerlan am Navigationsgerät herumfingerte, schnallte sich Danny blitzschnell ab, riss die Tür auf, sprang heraus, warf die Tür wieder zu und sprintete los.
„Ich fühle mich nicht als Held, ich will keine Aufmerksamkeit. Ich habe nur versucht, mein Leben zu retten“, sagt Danny. Irgendwann wird sein Name öffentlich. Spätestens, wenn er gegen Dschochar Zarnajew aussagt.
Unterdessen wurde bekannt, dass Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) an diesem Sonntag zu einem länger geplanten Besuch in die USA reist. Er will nach Ministeriumsangaben unter anderem Heimatschutzministerin Janet Napolitano treffen, US-Generalstaatsanwalt Eric Holder und eine Sicherheitsberaterin von Präsident Barack Obama, Lisa Monaco. Auch Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) reist in die Vereinigten Staaten. Er soll unter anderem seinen Amtskollegen Chuck Hagel treffen.