Das Abendblatt erklärt in einer Serie die gefährlichsten Krisenherde der Welt. Heute: der Irak. Zehn Jahre nach dem Dritten Golfkrieg steht das Land wieder am Abgrund
Hamburg. Die Namen Sumer, Akkad, Babylonien oder Assyrien stehen für Wendepunkte in der Geschichte der Menschheit. Hier entstanden ab dem 4. Jahrtausend vor Christus die ersten Großreiche der Geschichte, die Schrift und die urbane Zivilisation. Mesopotamien, das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, ist einer der wichtigsten Geburtsorte der menschlichen Hochkultur - allerdings wurde hier auch die organisierte Grausamkeit von Tyrannen perfektioniert, wie sie die assyrischen Herrscher betrieben. Der babylonische König Nebukadnezar II., geboren um 640 v. Chr., eroberte Jerusalem und führte die Juden in die Gefangenschaft. Seine Taten inspirierten einen anderen mesopotamischen Tyrannen namens Saddam Hussein dazu, sich gut zweieinhalb Jahrtausende später als Reinkarnation Nebukadnezars II. feiern zu lassen.
Denn der Irak, den Saddam Hussein zwischen 1979 und 2003 beherrschte, deckt den größten Teil des damaligen Mesopotamien ab. Das uralte Siedlungsgebiet wurde aber noch von Griechen, Persern, Römern, Parthern, Arabern und Osmanen regiert, bevor die Mandatsmacht Großbritannien 1920 daraus das Kunstprodukt Irak schmiedete. Bis heute unvergessen - vor allem durch die "Geschichten aus Tausendundeinernacht" - ist der grausame, von der Nachwelt verklärte Kalif Harun ar-Raschid, zu dessen Zeit Bagdad Hauptstadt eines blühenden islamisch-arabischen Reiches war.
Als sich Briten und Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg das zerfallene Osmanische Reich aufteilten, schuf London aus den ehemals osmanischen Provinzen Bagdad, Mossul und Basra ohne Rücksicht auf Ethnien kurzerhand einen neuen Staat und setzte Faisal, den Sohn des Scherifen von Mekka, als König ein. Kolonialminister Winston Churchill hatte sich dabei von der Archäologin, Abenteurerin und Geheimagentin Gertrude Bell beraten lassen, dem weiblichen Gegenstück zum legendären Lawrence von Arabien.
Die Araber waren wütend, weil man ihnen als Gegenleistung für den Kampf gegen die Türken ein unabhängiges Großreich versprochen hatte. Im Juli 1958 stürzten "Freie Offiziere" die probritische Monarchie. Doch die kurze Zeit einer demokratischen Öffnung wurde durch den Putsch der damals noch kleinen Baath-Partei 1963 beendet. Ein Funktionär und Auftragskiller der Partei wurde Vizepräsident: Saddam Hussein. 1979 war er dann Alleinherrscher über den Irak; Massenhinrichtungen und exzessive Menschenrechtsverletzungen erreichten einen ersten Höhepunkt. Es wird vermutet, dass der Herrschaft Saddam Husseins und seiner furchtbaren Söhne insgesamt bis zu 300.000 Iraker zum Opfer gefallen sind.
Bereits im September 1980 schickte Saddam neun Divisionen seiner Armee in einen Krieg gegen den benachbarten Iran, dessen Offizierskorps nach einer blutigen Säuberung durch das Khomeini-Regime stark geschwächt schien. Der Erste Golfkrieg tobte acht Jahre lang und forderte vermutlich bis zu einer Million Tote.
Saddam versuchte gleichzeitig aber auch, durch Massaker die widerspenstigen Kurden im Norden und die schiitischen Marsch-Araber im Süden unter Kontrolle zu halten. 1988 ließ er die kurdische Stadt Halabdscha mit Giftgas bombardieren, mehr als 5000 Menschen starben sofort, Tausende später.
Durch den de facto verlorenen Krieg war Saddam Hussein derart verschuldet, dass er Anfang August 1990 in das reiche Öl-Emirat Kuwait einmarschierte. Eine internationale Allianz unter amerikanischer Führung befreite Kuwait im Februar 1991 im Zweiten Golfkrieg. Doch US-Präsident George H. W. Bush zögerte, Saddam zu stürzen, da er ein Chaos im ethnisch und religiös zersplitterten Irak befürchtete. Einen von den USA ermutigten Aufstand der Schiiten und Kurden schlug Saddam nieder, 100.000 Menschen starben.
Im März 2003 allerdings - die USA waren inzwischen von der Terrororganisation al-Qaida auf eigenem Boden angegriffen worden - schickte US-Präsident George W. Bush mit Unterstützung einer "Koalition der Willigen" eine Invasionsarmee in den Irak. Zur Begründung hieß es, Saddam horte Massenvernichtungswaffen - was nachweislich nicht stimmte - und sei eine Allianz mit al-Qaida eingegangen - was erst recht blanker Unsinn war. Zehntausende, womöglich 100.000 Menschen kamen im Dritten Golfkrieg ums Leben - und weitere Zehntausende, als es al-Qaida gelang, im Nachkriegsirak einen Bürgerkrieg zwischen der Mehrheit der lange vom Sunniten Saddam unterdrückten Schiiten (63 Prozent) und der Sunniten (34 Prozent) zu provozieren. Einige irakische Quellen gehen von bis zu 60.000 Toten als Opfer der Kämpfe und täglichen Anschläge aus.
Und waren im Kriegsjahr 2003 nur 486 US-Soldaten im Irak gefallen, so waren es von 2004 bis heute mehr als 4000. Die US-Kampftruppen kehrten dem Land zwischen 2009 und 2011 schließlich den Rücken und hinterließen eine beunruhigende Instabilität. Eine verminderte Anzahl an Ausbildern und "Beratern" blieb zunächst.
Am 30. Januar 2005 wurden die ersten freien Wahlen seit mehr als 40 Jahren im Irak abgehalten; nach Ablösung einer Übergangsregierung wurden der Kurde Dschalal Talabani Staatspräsident und der Schiit Nuri al-Maliki Regierungschef. Im Oktober 2006 rief al-Qaida trotzig einen islamischen Staat aus. Die Gewalt brach mit voller Wucht wieder aus - allein in jenem Jahr starben 34.000 Zivilisten bei Anschlägen - flaute danach aber zunächst wieder ab.
Das Land mit seinen 30 Millionen Einwohnern und den zweitgrößten nachgewiesenen Ölreserven der Welt steht derzeit ein weiteres Mal am Abgrund; die Gewalt zwischen den politischen Gruppen und Ethnien eskaliert wieder - mindestens 2000 Anschlagsopfer waren es 2012, Tendenz sehr stark steigend. Ministerpräsident al-Maliki, der es sich durch einsame Entscheidungen mit allen anderen Parteien verdorben hat, will im April ein neues Parlament wählen lassen. Er sagte, das könne vielleicht die Krise beenden, die sonst in einen Bürgerkrieg münden könne. Der schiitische Kleriker Muktada al-Sadr sprach bereits von einem "Irakischen Frühling" im radikalislamischen Sinne, der nun im Irak anbreche.