Kein internationaler Politiker ist beliebter als der US-Präsident. Er erscheint als Friedenstaube, Mitt Romney als aggressiver Falke.
Bei deutschen Wählern hätte Mitt Romney keine Chance. Wenn wir auch in den USA nicht wählen dürfen, steht unser Votum für Obama fest: Er soll eine zweite Amtszeit erhalten. Das meinen mehr als 80 Prozent der Deutschen. Kein internationaler Politiker ist hierzulande beliebter als Barack Obama - ein Phänomen, das USA-Experten, Medien und viele Beobachter verblüfft. Was geht hier vor? Warum bleibt dieser US-Präsident bei uns so gut angesehen, obwohl er auch diverse Deutsche inzwischen enttäuscht hat?
Obamas Beliebtheit enthüllt manches über unsere politischen und moralischen Erwartungen. Wir lieben ihn, weil wir eigene Hoffnungen und Wünsche auf ihn projizieren können. Wir erhoffen einen sozial engagierten, umweltbewussten, toleranten, international verantwortlichen und militärisch vorsichtigen US-Präsidenten - einen Führer der "freien Welt", der zuhören kann, sich vorurteilslos und friedliebend zeigt und Intelligenz und Charakterstärke mit Charme und rhetorischem Glanz verbindet. So sehen hier die meisten Obama.
In Amerika gibt es dieses Obama-Bild auch, nur jetzt wollen nach Umfragen fast 50 Prozent Mitt Romney wählen. Warum nur? Weil Romney einseitig alte amerikanische Werte behauptet, die bei jeder Präsidentenwahl erneut beschworen werden: Freiheit, Selbstverantwortung, Selbstversorgung, freies Unternehmertum, religiöse Bindung, nationale Souveränität, Patriotismus und eine Haushalts- und Steuerpolitik, die Staatsschulden und die fiskale Bestrafung der Reichen nicht duldet. So lautet zumindest der Anspruch.
Für die meisten Deutschen bleibt Romney ein "Heuschrecken-Kapitalist", der soziale Kälte und Egoismus verbreitet. Sein Vizekandidat Paul Ryan geht noch einen Schritt weiter: Ryan hält Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit für Tugenden. Wer nichts aus eigener Kraft erarbeitet, ist nutzlos. Solidarität und gesellschaftliche Mitverantwortung sind für Ryan Begriffe, die er Europa, dem Sozialismus oder gar Kommunismus zuschreibt. Ein echter Republikaner wie er steht auf eigenen Füßen und lehnt es ab, vom Staat unterstützt zu werden.
Hier liegt der Grund, warum die Republikaner und sogar einige Demokraten Obamas Gesundheitsreform ablehnen. Niemand dürfe einen freien Bürger zwingen, eine staatlich verordnete Krankenversicherung abzuschließen. Der Staat habe die Aufgabe, die Entscheidungsfreiheit der Bürger zu schützen: So wenig Staat wie möglich, so viel Freiheit und Eigenverantwortung wie erdenklich! Sollte der Bürger die private Versicherung ablehnen und sich bei einer schweren Erkrankung finanziell ruinieren, wäre nur er selbst dafür verantwortlich.
Diese radikale Philosophie der Selbstverantwortung prallt in Deutschland auf Unverständnis. Wir wünschen uns einen Staat, der seine Bürger im Ernstfall hilfsbereit und gewissenhaft versorgt. Diesen Wunsch übertragen wir auf das Amerika Obamas, der hierin unseren Vorstellungen von einer sozial gerechten Gesellschaft entspricht.
Die meisten Deutschen schätzen darum Obamas innenpolitische Erfolge: Er hat ein staatliches Konjunkturprogramm durch den Kongress gepaukt, den öffentlichen Dienst vor der Insolvenz gerettet, die Automobilindustrie vor dem Kollaps bewahrt, die Tricks der Wall-Street-Finanziers in Schach gehalten, die Gesundheitsreform durch den Kongress gehievt, jugendliche illegale Einwanderer vor der Abschiebung gerettet, die Kürzung des Militärhaushalts avisiert und die Mittelschicht steuerlich entlastet. Selbst in der Umwelt- und Energiepolitik ist er nicht gescheitert: Amerikas Energiebedarf soll bis 2025 zu 25 Prozent aus alternativen Energien gedeckt werden. Obama liegt uns also näher als sein republikanischer Konkurrent. Das persönliche Element gesellt sich dazu. Obamas Biografie fasziniert viele Deutsche. Hier hat es wieder jemand geschafft, sich aus kleinsten materiellen und sozialen Verhältnissen hochzuarbeiten - primär durch Fleiß, Intelligenz und Durchhaltewillen und gegen rassische und soziale Widerstände.
Auch hier setzt die Projektion wieder ein: Obama kommt 2009 als Retter in der Not ins Weiße Haus. Diesem ersten schwarzen Präsidenten wird nun erlaubt, was für Martin Luther King ein großer Traum blieb - die Eroberung des mächtigsten politischen Amts durch einen "Farbigen". Die Sünden der Vorväter, die Sklaven quälten und die amerikanischen Ureinwohner internierten und töteten, können nun endlich gesühnt werden. Zumindest wird das schlechte nationale Gewissen der USA beruhigt und Amerika auch für uns wieder ansehnlich.
Für die Deutschen entsteht die Hoffnung, dass Multikulti eine echte Alternative zur homogenen Gesellschaft wird. Nur könnte in Deutschland bisher niemand wagen, einen Schwarzen, Mischling oder türkisch-stämmigen Politiker zum Kanzlerkandidaten zu küren. So weit sind wir noch lange nicht. Aber Amerika kann das.
Mitt Romney hingegen entstammt der weißen Oberschicht. Sein Vater war Manager, Minister und auch Präsidentschaftskandidat. Die Romney-Familie lässt sich mit dem Bush-Clan vergleichen, der die USA in oligarchisch-autoritärer Manier regierte. Viele Deutsche hingegen wünschen sich Chancengleichheit, die Verwirklichung des amerikanischen Traums "vom Tellerwäscher zum Millionär". Obama passt in das Klischee, Romney nicht. Und da wir uns eine Demokratie und keine Oligarchie wünschen, glauben wir an Obama.
Am wichtigsten aber sind die außenpolitischen Projektionen: Wir Deutsche halten uns für international orientiert und außenpolitisch interessiert. Durch Welthandel, Tourismus, neun direkte Nachbarn und eine kosmopolitische Gesinnung verfolgen wir vieles, was im Ausland geschieht. Wir wollen einen US-Präsidenten, der ähnlich denkt. Wir sehen zwar, dass die USA zur größten Militärmacht aufgestiegen sind, doch wir hoffen und wünschen, dass die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik in besonnenen und klugen Händen liegen möge.
Hier schneidet Obama besonders gut ab. Romney aber gilt als "Falke", Obama als "Taube". Nach der verhängnisvoll militanten Bush-Regierung lagen alle Hoffnungen auf Obama: Jetzt sollte ein Präsident regieren, der unsere Erwartungen an eine friedliche, diplomatische, umweltfreundliche und verantwortungsbewusste US-Regierung erfüllen sollte. Denn vor allem erhoffen wir eine Welt ohne Krieg, Religionskonflikte, Terrorismus oder Massenvernichtungswaffen.
Obama konnte diese Erwartungen zunächst erfüllen. Die Doktrin der "präventiven Selbstverteidigung" seines Vorgängers sollte durch die Politik der internationalen Legitimität ersetzt werden. Barack Obamas außenpolitische Reden in Berlin, Kairo oder Prag setzten neue Akzente der Versöhnung, Völkerverständigung und Hoffnung auf Frieden in einer besseren Welt.
Doch spätestens seit dem umstrittenen Friedensnobelpreis im Jahre 2009 stellte sich heraus, dass Obama kein "Pazifist" im deutschen Sinne ist. Hier scheitern unsere Projektionen: Der Wunsch nach einem leidenschaftlich friedliebenden US-Präsidenten bleibt nach unser Vorstellung eine Illusion. Der Krieg gegen den Terror und die al-Qaida ist auch für ihn unerlässlich.
Präsident Obama will zwar den gigantischen Militärhaushalt reduzieren, doch an der hegemonialen Vormachtstellung der USA rüttelt er nicht. Wie Ronald Reagan erklärt er Amerika zur Macht im Pazifik und will die aufstrebende Gegenmacht China eindämmen und zugleich einbinden. Hierfür braucht er ein starkes Militär. Obendrein hält er den Terrorismus und das iranische Atomprogramm für die größte Bedrohung der Vereinigten Staaten. Eine wirkliche außenpolitische Umorientierung fand nicht statt. Stattdessen wird der Krieg mit ferngesteuerten Drohnen intensiviert.
Der militärisch-industrielle Komplex und der riesige Militärhaushalt bleiben zunächst unangetastet. Diese Entwicklung gefällt uns nicht. Denn inzwischen mag Deutschland die amerikanischen Forderungen nach mehr Rüstungsausgaben nicht mehr hören.
Und Mitt Romney? Den "Falken" Romney können wir auf keinen Fall gebrauchen. Romney will sogar den US-Militärhaushalt um viele Hundert Milliarden Dollar erhöhen. Obendrein bedrängen ihn die Neokonservativen - die offensiven Bush-Berater, die von einer militanten globalen US-Ordnung träumen und den Präventivkrieg als sicherheitspolitisches Konzept vertreten. Mitt Romney, nein danke! Da spukt der Geist von Donald Rumsfeld, Richard Cheney und Condoleezza Rice mit ihrem fatalen und teuren Irak-Krieg. Da nützt es Romney auch nicht, sich in der letzten TV-Debatte als Wolf im Schafspelz zu präsentieren.
Wir interessieren uns primär für die außenpolitische Orientierung der USA - anders als die US-Wähler, denen es meist um ihre eigene Wirtschaft geht. Obama oder Romney - beide werden uns kein Amerika bescheren, das unseren Idealvorstellungen entspricht. Wir ziehen Obama jedenfalls vor. Hätten wir die Wahl zwischen dem Falken Romney oder der Taube Obama, so entschieden wir uns für die vermeintliche "Friedenstaube" - trotz aller kritischen Einwände auch bei ihm. Romney bleibt ein kalter Krieger aus einer vergangenen Welt. Obama bietet immer noch viel Hoffnung.
Der Autor: Friedrich Mielke ist Publizist und Amerika-Experte. Von 1985 bis 1997 war er Pressereferent des Amerika-Hauses in Hamburg.