Doch ein knappes Jahr nach dem Jahrhundert-Erdbeben herrschen nun politisches Chaos und Cholera. Millionen Haitianer sind obdachlos.
Hamburg. Wie immer, sind es vor allem die Kinder, die am meisten leiden. Und dabei sind es die Kinder, auf denen die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft ruhen. Haiti, der westliche Teil der Karibikinsel Hispaniola, ist ein knappes Jahr nach dem verheerenden Jahrhundert-Erdbeben weder humanitär noch politisch stabilisiert.
Wie viele Menschen damals starben, als die Erde am 12. Januar bebte, vermag wohl niemand genau zu sagen. Schätzungen der Katholischen Kirche auf Haiti reichen bis zu einer halben Million, vermutlich waren es aber mindestens 300 000. Noch immer sind mehr als eine Million Haitianer obdachlos. Die sanitären Verhältnisse, in denen viele Menschen leben müssen, haben für eine Cholera-Epidemie gesorgt, der seit Oktober bereits 2500 Menschen zum Opfer gefallen sind.
Insgesamt 2000 Hilfswerke aus aller Welt sind in Haiti tätig - der Staat selber glänzt weitgehend durch Abwesenheit. Haitis politische Instanzen scheinen durch die chaotisch verlaufene Präsidentenwahl am 19. November noch immer wie gelähmt. Welche der 19 Kandidaten in die Stichwahl im Januar einziehen werden, ist nach wie vor ungeklärt. Einige politische Analysten stufen Haiti nicht mehr nur als schwachen, sondern bereits als gescheiterten Staat ein. "Unzureichende staatliche Strukturen und politische Instabilität erschweren den Wiederaufbau", klagte die Diakonie Katastrophenhilfe zusammen mit Caritas, dem Deutschen Roten Kreuz und Unicef.
Das Ziel der Wahlen im Oktober war eine handlungsfähige Regierung - davon hatten die internationalen Geldgeber auch ihre Hilfe in Höhe von zehn Milliarden Dollar abhängig gemacht. Nun verzögern neben der Cholera auch Wahlchaos und politische Auseinandersetzungen die Fortsetzung der humanitären Hilfe. Die benötigen vor allem die Kinder. Nach dem Erdbeben irrten unzählige von ihnen umher und wurden zum Teil Opfer von Menschenhändlern. Hunderttausende Kinder haben ihre Eltern verloren; die in London sitzende Hilfsorganisation Save the Children sprach nach dem Beben sogar von einer Million elternloser Kinder. Hilfsorganisationen wie Unicef warnen vor Adoptionen ins Ausland, die die Kinder aus ihrem Umfeld reißen würden.
Maike Röttger, Geschäftsführerin von Plan International Deutschland, sagte dem Abendblatt dazu: "Wir sind seit 1973 auf Haiti tätig und betreuen derzeit 42 000 Patenkinder und ihre Familien in mehr als 100 Partnergemeinden landesweit. So haben wir nach dem Erdbeben umgehend Zeltschulen eingerichtet, Übergangsschulen gebaut, Lehrkräfte geschult und 30 000 Kinder mit Lernmaterial ausgestattet. In den Notunterkünften haben wir 30 kinderfreundliche Bereiche eingerichtet, wo Mädchen und Jungen betreut werden und vor sexuellem Missbrauch und Entführungen geschützt sind. Unsere Idee dahinter ist immer, die Kinder selber stark zu machen."
Adoptionen hält auch Röttger nicht für das geeignete Mittel der Hilfe. "Kinder sollten nicht außer Landes gebracht werden. Sie sind die Zukunft Haitis und sollten unterstützt werden, die Situation vor Ort zu verbessern. Das beherzigen wir zurzeit auch bei der Cholera-Bekämpfung. Wir schulen Kinder, aber auch ihre Eltern, damit sie Cholera-Erkrankungen vermeiden."
Röttgers Kollegin Antje Schröder, die für Plan auf Haiti gearbeitet hat, berichtete von einer Umfrage, die Plan International mit Unterstützung von Unicef auf Haiti vorgenommen hat. 500 Jungen und 500 Mädchen im Alter zwischen fünf und 24 Jahren wurden in neun verschiedenen Regionen des Inselstaates nach ihren Wünschen für die Neugestaltung Haitis befragt. Das Ergebnis floss in den Wiederaufbauplan des Landes ein, der Uno, EU, Weltbank und anderen Gebern am 31. März in New York präsentiert wurde.
"Die Kinder wünschten sich vor allem Bildung, um ihre Chancen auf ein besseres Leben wahrnehmen zu können", sagt Schröder. Das gesamte Schulwesen Haitis muss nun neu organisiert, Lehrpläne gestaltet und Lehrer ausgebildet und geschult werden. "Da die Hälfte der Bevölkerung jünger als 19 Jahre ist, müssen wir die jungen Menschen befähigen, Lösungen für die Probleme ihres Landes parat zu haben. Sie müssen die Zukunft Haitis in die Hände nehmen. Doch das können sie nur tun, wenn sie lesen und schreiben und sich informieren können." Es reiche nicht, Brunnen zu bohren und Schulen zu bauen: "Ganz wichtig ist ein 'capacity building' - der Erwerb von Wissen und Handlungskompetenz."