WikiLeaks-Enthüllung zeigt, wie wenig US-Diplomaten von der Bundesregierung halten
Berlin. Guido Westerwelle war früh gewarnt worden. Am Mittwoch hatte der Außenminister mit dem US-Botschafter in Deutschland, Philip Murphy, zusammengesessen, um die unerfreuliche Nachricht entgegenzunehmen. Am Freitag musste ihm Amtskollegin Hillary Clinton am Telefon dasselbe beichten: Das Internetportal WikiLeaks würde Hunderttausende diplomatische Geheimberichte aus US-Botschaften veröffentlichen. Und Westerwelle musste erfahren, dass manch dokumentierte Einschätzung von US-Diplomaten ausgerechnet über ihn besonders schlecht ausfallen würde.
Gestern Abend wusste er es dann ganz genau: Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", dem das WikiLeaks-Material vorab zugespielt worden war, zitierte aus den brisanten Dokumenten, in denen der FDP-Chef als "aggressiv" und als ein "Rätsel" bezeichnet wird. "He is no Genscher", notierten die amerikanischen Beobachter. Zudem habe Westerwelle eine "überschäumende Persönlichkeit", heißt es etwa in einer Depesche der US-Botschaft Berlin vom 22. September 2009. Deshalb falle es ihm schwer, bei Streitfragen mit der Bundeskanzlerin in den Hintergrund zu treten. Außerdem meldete die Berliner US-Botschaft, die insgesamt 1719 Berichte für Washington verfasste, über den Vizekanzler: "Westerwelle-Mitarbeiter wundern sich in privaten Gesprächen mit uns immer noch, woher er seine politische Richtung bekommt."
Die Empfehlung der Berliner US-Diplomaten: Bei wichtigen Fragen lieber direkt an die Kanzlerin ("Hat mehr Erfahrung in Regierung und Außenpolitik") wenden - oder an ihren außenpolitischen Berater Christoph Heusgen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bescheinigen die Amerikaner, sie sei "unter Druck beharrlich, aber meidet das Risiko und ist selten kreativ". Aber sie wird auch als "methodisch, rational und pragmatisch" bezeichnet, an anderer Stelle wieder als "Teflon"-Merkel, an der viel abgleite.
Über Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) urteilen die US-Diplomaten: "Er ist ein zorniger alter Mann." Aber er sei ein enger Verbündeter im Kampf gegen den Terror. CSU-Chef Horst Seehofer wird als "unberechenbar - mit begrenztem Horizont und außenpolitisch weitgehend ahnungslos" charakterisiert. Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) wird in Botschaftskreisen sogar als "schräge Wahl" bezeichnet.
Durchweg gut kommt Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) weg, der "Hoffnungsträger der USA, außenpolitischer Experte, Transatlantiker und ein enger Freund der USA" sei. Und genüsslich fügten die US-Diplomaten hinzu, was Guttenberg im kleinen Kreis über die Kanzlerin erzählt: "Sie ist beim Thema Wirtschaft nicht durchsetzungsfähig genug."
Obwohl nun mehrere deutsche Spitzenpolitiker politisch wie entblößt dastehen, glaubt der Koordinator der Bundesregierung für die transatlantische Zusammenarbeit, Hans-Ulrich Klose (SPD), nicht an eine Verschlechterung der deutsch-amerikanischen Freundschaft. "Die Zusammenarbeit zwischen der deutschen und der amerikanischen Regierung wird unter den Berichten nicht leiden", sagte Klose dem Abendblatt. "Wir sollten in Deutschland ganz entspannt damit umgehen", forderte Klose. Er empfehle, "diese Geschichte tiefer zu hängen". Klose äußerte sich indes kritisch über die Politiker-Bewertungen aus US-Botschaften. Eine solche Praxis hält er in Deutschland für undenkbar. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die deutsche Regierung Einschätzungen über ausländische Kollegen schriftlich fixiert", sagte der SPD-Politiker. Aber dass man übereinander spreche, sei völlig normal. "Das machen nicht nur normale Arbeitnehmer im Büro, das macht man auch auf der Ebene von Regierungen."
Zugleich kritisierte Klose: "Wenn man dazu Notizen macht, ist das nicht sonderlich klug." Seiner Meinung nach soll die WikiLeaks-Veröffentlichung "ganz gezielt Zerstörung hervorrufen". Er mahnte: "Alle betroffenen Regierungen sollten vernünftig genug sein, das als einen kleinen Vorfall hinzunehmen." Die Dokumente nützten niemandem etwas. Wer sie publiziere, schüre Ärger und Missstimmung.
Die Angst der USA vor dem diplomatischen Scherbenhaufen konnte man gestern am besten in einem Gastbeitrag des US-Botschafters Murphy ablesen, den er für "Bild am Sonntag" geschrieben hatte. "Es lässt sich schwer sagen, welche Auswirkungen das haben wird. Es wird zumindest unangenehm sein - für meine Regierung, für diejenigen, die in unseren Berichten erwähnt werden, und für mich persönlich als amerikanischen Botschafter in Deutschland", so Murphy. Er sei sicher, so der Botschafter, dass die Freundschaft zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland diese Herausforderung überleben werde.
Gestern um Mitternacht standen die 251 287 Geheimberichte noch nicht im Internet. Zur geplanten Veröffentlichung hatte eine massive Daten-Attacke die Website der Enthüllungs-Aktivisten lahmgelegt. Urheber unbekannt.