Franzosen demonstrieren nicht mehr, nur spektakulärer. Warum das so ist, erklärt der Berliner Protestforscher Dieter Rucht.
Berlin. Dieter Rucht leitet die Forschungsgruppe "Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa" am Wissenschaftszentrum Berlin.
Abendblatt:
In Frankreich sind seit einer Woche Hunderttausende auf der Straße. Ist das eine neue Qualität der Proteste?
Prof. Dieter Rucht:
Es gab in Frankreich immer wieder heftige Protestwellen, 1995 etwa einen Generalstreik auch gegen eine Rentenreform, 2005 gegen geringeren Kündigungsschutz für Berufseinsteiger, 2009 gegen die Banker. Oft sind die Beschäftigten im öffentlichen Dienst federführend, unterstützt mal durch Lkw-Fahrer oder Winzer oder Bauern. Das war bisher nichts Ungewöhnliches. Wirklich neu ist jetzt, dass gerade die jungen Leute sich für ein Thema wie die Rentenreform interessieren, das biografisch für sie noch in weiter Ferne liegt.
Der Soziologe Didier Lapeyronnie meint, es gehe nur am Rande um die Rentenreform und vielmehr gegen eine ungerechte Politik und gegen die Regierung Sarkozy. Er warnt vor "Verhältnissen wie 1968".
Rucht:
So hoch würde ich das nicht hängen. Ich teile aber die Einschätzung, dass manche Proteste zuerst sehr themenspezifisch erscheinen, aber dann doch eine breite Allianz von Organisationen und sozialen Gruppen versammeln, die ein Anti-Regierungsbündnis bilden. Dasselbe sehen wir in Italien, wo es immer wieder eine breite Anti-Berlusconi-Koalition gibt. Da bündelt sich der Unmut aus verschiedenen Politikfeldern.
Die Zeitung "Sud-Ouest" schreibt: "Das Frankreich der einfachen Leute grenzt sich ab zum Frankreich der Eliten."
Rucht:
Ja, diese Wir-hier-unten-Ihr-da-oben-Mentalität ist, wie ich glaube, in Frankreich stärker ausgeprägt als bei uns. Sie wird jetzt zugespitzt auf Sarkozy. Es ist eine konservative Politik, die die Kluft zwischen oben und unten verstärkt, wie er zuletzt mit der Ausweisung der Roma demonstriert hat.
Warum sind die Franzosen gegen einen späteren Renteneintritt sofort auf der Straße und die Deutschen nicht?
Rucht:
Die Demonstrationsfreudigkeit der Franzosen täuscht. Nach meiner Einschätzung wird in Deutschland deutlich mehr demonstriert. Durch die mediale Wahrnehmung springen uns immer wieder diese großen französischen Proteste in die Augen. In Deutschland haben wir eher das umgekehrte Bild: Viele kleinere Demonstrationen, allein in Berlin rund 2700 pro Jahr, finden höchstens in den Lokalzeitungen Interesse. Aber wenn in Frankreich demonstriert wird, dann groß und oft spektakulär. Da werden Bürgermeisterämter gestürmt, Akten aus dem Fenster geworfen oder Lkw umgekippt.
Wie kommt es zu diesem Unterschied?
Rucht:
Die Vermittlungskanäle zwischen Bürgern und Staat sind in Deutschland stärker ausgeprägt. Dazu zählen ein dichteres Spektrum mittlerer Parteien, moderate Gewerkschaften, mehr Partizipationsverfahren etwa im Baurecht. Die Bürger haben mehr Ventile, um ihren Unmut artikulieren zu können.
Bei Stuttgart 21 schließen sich den ursprünglichen Anti-Bahnhof-Gruppen jetzt auch andere Unzufriedene an. Sehen Sie Parallelen?
Rucht:
In Frankreich spielen die Arbeiterschaft und neuerdings die Jugendlichen eine wichtige Rolle bei den Protesten. In Stuttgart geht es vordergründig um die Frage "Kopfbahnhof oder Durchgangsbahnhof". Es gibt aber ein massives Unbehagen bei vielen Stuttgartern, das über den Konflikt hinausgeht. Es ist das Gefühl einer Entfremdung gegenüber der politischen Klasse. Viele Leute haben uns gesagt, sie hätten Vertrauen verloren, seien nicht richtig informiert worden, nicht richtig einbezogen worden. Das alles resultiert in diesem Unbehagen: Die da oben machen mit uns, was sie wollen.