In Ägypten regiert künftig der Islamist Mohammed Mursi. Der erste frei gewählte Präsident muss sich mit dem Militärrat arrangieren.

Alexandria. Die Spannung steigt ins Unermessliche. Schon zweimal wurde die Bekanntgabe des Wahlresultats verschoben. Jetzt endlich ist es so weit: Ägyptens neuer Präsident steht fest. Ein Aufschrei, als der Chef der Wahlkommission, Farouk Sultan, das Resultat verkündet: Mohammed Mursi wird dem gestürzten Husni Mubarak im Amt nachfolgen. Ein historischer Moment im gesamten Nahen Osten. Noch nie in der Geschichte des größten arabischen Landes ist ein Staatsoberhaupt aus freien Wahlen hervorgegangen. Und noch nie standen sich zwei derart kontroverse Kandidaten gegenüber. Doch der Kampf um das höchste Amt am Nilhat die Ägypter tief gespalten. Und das Ringen um die Macht zwischen der Armee, den Islamisten und der Protestbewegung ist damit keineswegs vorbei. Ägypten stehen noch schwierige Zeiten bevor.

Lautes Gehupe an der Corniche in Alexandria. Die Uferstraße am Mittelmeer ist binnen Minuten voll von Autoschlangen der Anhänger Mursis, die mit viel Lärm den Sieg ihres Favoriten feiern. In Kairo harrten Tausende seit Tagen am Tahrir-Platz aus, um diesen Moment mit den anderen zu feiern. Feuerwerk und "Mursi, Mursi!"-Rufe hallten im ganzen Land: den Nil entlang, amSuezkanal und auch am Roten Meer. Vor 16 Monaten, als die Ägypter ihren Pharao vom Thron stürzten, hätte wohl keiner von ihnen jemals geglaubt, dass ein Muslimbruder ihn beerben werde. Während seiner gesamten fast 30-jährigen Amtszeit war die Bruderschaft für Mubarak der Erzfeind. Tausende hat er verhaften und ins Gefängnis werfen lassen. Auch Mursi saß etliche Monate im Tora-Gefängnis, wohin die Staatsanwaltschaft Mubarak nach dem Urteilsspruch "lebenslänglich" schickte. Wegen des Herzanfalls Anfang vergangener Woche verlegte man den Ex-Präsidenten wieder in das Militärkrankenhaus im Kairoer Nobelbezirk Maadi.

+++ Ein Islamist wird Präsident von Ägypten +++

"Es wird noch Unruhen geben", prophezeit Said Ghallab, Leiter der Politikwissenschaften an der Pharos-Universität in Alexandria. Zwar hätte ein Sieg Ahmed Shafiks - Rivale Mursis und Gefolgsmann Mubaraks - sofort direkte Konfrontationen sowohl mit den Muslimbrüdern als auch mit der Revolutionsbewegung ausgelöst. Aber auch der Islamist Mursi ist sehr umstritten. Das knappe Ergebnis von 51,7 Prozent für ihn zeigt, wie uneins die Ägypter bezüglich ihrer politischen Führung sind.

An allen Ausfallstraßen aus Kairo stehen Panzer und Soldaten. Vor denöffentlichen Gebäuden in allen größeren Städten wurde die Sicherheit ebenfalls verstärkt. Der Suezkanal wird von Soldatenkonvois bewacht. An der Uferstraße in Alexandria fällt die Militärpräsenz auf. Die verzögerte Bekanntgabe des Wahlergebnisses führte nicht nur zu Demonstrationen und Spannungen, sondern auch zu endlosen Spekulationen. Konspirationstheorien wuchsen ins Kraut. Dem regierenden Militärrat wurde ein faules Spiel unterstellt. Mal hieß es, er wolle den ehemaligen Luftwaffengeneral Shafik auf den Thron heben. Dann wollten Anhänger Mursis erfahren haben, dass die Militärs einen Deal mit den Muslimbrüdern aushandelten. Die plötzlich mildenTöne des ansonsten als Hardliner geltenden Islamisten nannten sie als Beweis. Dieser hatte in den letzten Tagen alle Kräfte Ägyptens zur Zusammenarbeit aufgerufen und bekundet, er werde eng mit dem Militär kooperieren.

Politikprofessor Ghallab indes glaubt nicht an gezielte Absprachen im Vorfeld. Er weiß, dass die Verzögerung der Bekanntgabe der Resultate allein auf die unzähligen Beschwerden zurückzuführen ist, deren Bearbeitung viel Zeit und Raum einnahmen. Mehr als 400 gravierende Eingaben und Hinweise auf massive Wahlfälschungen habe es gegeben. Aber auch die Wahlkommission selbst sei Ziel von Drohungen und Anschuldigungen gewesen. Wahlkommissionspräsident Sultan spricht von einer schlechten, spannungsgeladenen Atmosphäre.

+++ Kommentar: In den Händen der Generäle +++

Dass Mursi mit dem Militär zusammenarbeiten will, kann die Spannungen vorerst ein wenig lösen. Er hat auch keine andere Wahl. Die Generäle haben in einem "sanften Putsch", wie die Muslimbrüder es nennen, alle Macht in ihre Hände gelegt. Kurz vor den Stichwahlen ging es Schlag auf Schlag. Das Verfassungsgericht erklärte das Parlament für nicht rechtmäßig, da zwei Drittel der Abgeordneten nicht, wie vorgeschrieben, unabhängige Kandidaten seien, sondern Parteien angehörten. Der Militärrat bekundete daraufhin, den Urteilsspruch zu vollstrecken und das mehrheitlich von Islamisten dominierte Parlament aufzulösen. Kurz darauf verkündete der Justizminister, er habe ein Dekret unterzeichnet, wonach Demonstranten und Randalierer ohne Einschränkung festgenommen und festgehalten werden können. Ein Schlag ins Gesicht der Protestbewegung, die die Abschaffung des Ausnahmezustands, wie er seit 1981 in Kraft war, forderte. Die neue Anordnung kam unmittelbar nach der Nachricht, dass der Ausnahmezustand nicht mehr verlängert werde. Nach dem Zuckerbrot kam postwendend die Peitsche.

Schließlich verkündete der Militärrat, er werde bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung ein Vetorecht haben. Mursi wird also auf allen Ebenen Kompromisse machen und sich für alles, was er tut, die Zustimmung der Generäle einholen müssen. Er ist ein Präsident ohne Verfassung, die seine Rechte und Pflichten regelt, ohne Parlament, das Gesetzesvorlagen beschließen kann, und hat einen Militärrat im Nacken, der in letzter Instanz alles entscheidet.