Einst waren es Einwanderer aus Italien, die in der Schweiz Pöbeleien erlebten. Heute müssen oft die Deutschen als Feindbild herhalten.
Zürich. Der Satz klang für deutsche Ohren fast niedlich: "Es hätt zvill Tüütschi“, sagte die Abgeordnete Natalie Rickli im Fernsehen. Die Worte lösten wenige Tage vor dem Schweiz-Besuch des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) einen Debattensturm aus. Sind die knapp 280.000 Deutschen in der Alpenrepublik "zvill“, zu viele? Nehmen arrogante "Tüütschis“ bescheidenen Schweizern die Jobs weg? Muss man den Teutonen-Zuzug drosseln?
Neu sind Schweizer Animositäten gegenüber dem "großen Kanton“ im Norden keineswegs. Geschürt wurden sie durch nassforsches Auftreten deutscher Politiker. Bis heute unverziehen sind die Worte, mit denen 2009 Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) den Schweizern im Steuerstreit ein scharfes Vorgehen Deutschlands androhte: "Die Kavallerie in Fort Yuma muss nicht immer ausreiten, manchmal reicht es, wenn die Indianer wissen, dass sie da ist.“
Bei den solcherart abqualifizierten Alpen-"Indianern“ hat die Deutschenfeindlichkeit seitdem zugenommen. Inzwischen sei ein "bedenkliches Ausmaß“ erreicht, warnt Barbara Schmid-Federer, Mitglied des Präsidiums der Christlichdemokratischen Volkspartei der Schweiz (CVP). Deutsche würden nach dem Rickli-Auftritt mitten in Zürich als "Sau-Schwaben“ beschimpft.
Natalie Rickli sieht sich allerdings durch eine Umfrage im Auftrag der Zeitung "Sonntags-Blick“ in der Forderung gestärkt, die Einwanderung nicht allein für Osteuropäer, sondern auch für Deutsche zu drosseln. Immerhin erklärten 36 Prozent der Befragten, der Anteil von Deutschen in der Schweiz sei zu hoch.
Dass 64 Prozent der Umfrage-Teilnehmer angaben, sie würden mit Deutschen gut zurechtkommen, tröstet nur bedingt. Klar ist auch, dass sich niemand an Leuten wie Fußball-Trainer Heiko Vogel stört, der den FC Basel gerade zum Meister machte. Oder an Formel-1-Star Sebastian Vettel, der laut "Blick“-Chefredakteur Karsten Witzmann (ebenfalls Deutscher) in der Schweiz brav seine Siegprämien versteuert.
Und dass Deutsche Schweizern Jobs wegnehmen, ist bei einer Arbeitslosigkeit von 3,4 Prozent eher irrational. Auch die Ansicht, reiche Deutsche würden Immobilienpreise in die Höhe treiben, hält genauer Betrachtung kaum stand.
Doch es gibt diffuse kultur- und mentalitätsbedingte Ängste. Rickli: "Wenn es aber nur noch deutsche Serviertöchter (Kellnerinnen) hat, deutsche Ärzte, ich in den Schweizer Bergen nur noch von Deutschen bedient werde, fühle ich mich nicht mehr daheim.“
Feindbilder im Zusammenhang mit der Einwanderung in die Schweiz hätten sich geändert, schrieb "Der Sonntag“-Chefredakteur Patrik Müller. Seien es einst Italiener und später Jugoslawen gewesen, die angefeindet wurden, so wären nun halt die Deutschen an der Reihe.
Gegen sie zu pöbeln, sei selbst "in akademischen Kreisen salonfähig“. Grund: "Schließlich sind die Deutschen stark. Die meisten, die kommen, verdienen gutes Geld, haben Kaderjobs. Gehen in die Oper. Sind uns sprachlich überlegen.“ Doch es dürfe keine Anfeindungen gegen bestimmte Ausländergruppen geben, vielmehr müsse die Zuwanderung insgesamt gedrosselt werden.
Auf einem so aufgeheizten Debatten-Terrain hatte Kretschmann am Montag in Bern keine leichte Aufgabe. Zumal er schon im Vorfeld deutlich machte, dass Baden-Württemberg das deutsch-schweizerische Steuerabkommen ohne wesentliche Nachbesserungen weiter im Bundesrat blockieren will. Auch beim Streit um den Fluglärm durch den Airport Zürich hatte er wohl keine Kompromissangebote im Gepäck.
Allerdings kommen Kretschmanns versöhnliche Art und sein Bemühen um Kompromisslösungen in der Schweiz weit besser an, als Drohungen mit der Kavallerie. Zudem spielt Baden-Württemberg seit jeher eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung des schweizerisch-deutschen Verhältnisses – auch wegen der Tausenden Berufspendler, die in Süddeutschland wohnen und in der Schweiz ihr Geld verdienen.
Wie wichtig Stuttgart aus Berner Sicht ist, wurde schon daran deutlich, dass für Kretschmann vier Minister aufgeboten wurden - einschließlich der turnusmäßig amtierenden Regierungsvorsteherin Eveline Widmer-Schlumpf. Ein Viertel ihres gesamten Außenhandels wickelt die Schweiz mit Deutschland ab. Und "ein Drittel davon geht über Baden-Württemberg“, sagte der Berner Außenamtssprecher Jean-Marc Crevoisier dem "Sonntag“. "Das entspricht etwa dem Handelsumsatz mit den USA. Das sagt alles.“