Nach 32 Stunden stürmen französische Eliteeinheiten das Haus des Attentäters. Präsident Sarkozy kündigt neue Sicherheitsmaßnahmen an.
Toulouse. Um 11.30 Uhr erschüttern kurz hintereinander drei Explosionen das Wohnviertel um die Rue Sergent Vigne im Toulouser Stadtviertel Coté Pavée. Dann fallen Schüsse, erst ein paar, dann Dutzende, schließlich ertönt Dauerfeuer aus mindestens zwei automatischen Waffen. Es ist der Moment der Entscheidung. Nach 32 Stunden Belagerung der Wohnung des Attentäters Mohammed Merah heißt jetzt der Befehl: Sturm auf den Unterschlupf.
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Kurz darauf macht die Meldung die Runde, Mohammed Merah sei bei dem Gefecht getötet worden. Zwei Polizisten erlitten Verletzungen. Der 23-Jährige, der in den vergangenen neun Tagen drei Soldaten und drei Kinder sowie einen Lehrer einer jüdischen Schule kaltblütig ermordet sowie einen weiteren Soldaten und einen 17 Jahre alten Schüler lebensgefährlich verletzt hatte, hat also seine Ankündigung wahr gemacht: Er wolle "mit der Waffe in der Hand sterben", hatte er während der Gespräche mit Polizeikräften am Vortag gesagt. Zwischenzeitlich hatte er allerdings auch in Aussicht gestellt, sich zu stellen. Seit Dienstagabend 22.45 Uhr hatte die Polizei jedoch keinen Kontakt mehr zu dem Täter, der sich selbst als Al-Qaida-Mitglied bezeichnete und als Motiv für seine Morde angegeben hatte, er wolle den Einsatz der französischen Armee in Afghanistan und die Tötung palästinensischer Kinder im Gazastreifen rächen.
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Kurz nach 23 Uhr wurde in den Straßenzügen des Viertels am Dienstagabend das Licht abgedreht, dann ertönten in dem vierstöckigen Plattenbau drei Detonationen. Die Einsatzkräfte der Anti-Terror-Einheit RAID setzten den Täter so unter Stress, um zu verhindern, dass er schlafen und sich erholen konnte. Gegen fünf Uhr morgens folgte eine weitere Explosion. Nachdem sich Merah auch am Morgen nicht meldete, begann der Zugriff. Mit Wärmebildkameras hatten die Einsatzkräfte festgestellt, dass sich Merah nicht mehr im Wohnzimmer der Erdgeschosswohnung befand. Als sie versuchten ins Badezimmer einzudringen, eröffnete Merah das Feuer. Mehr als 300 Patronenhülsen wurden hinterher eingesammelt. Merah stürzte schließlich aus dem Badezimmer, schaffte es noch, um sich schießend aus dem Fenster zu hechten. Schließlich traf ihn, der unter seinem Umhang eine kugelsichere Weste trug, die Kugel eines Scharfschützen in den Kopf. "Er hat mit äußerster Gewalt um sich geschossen, dann ist er aus dem Fenster gesprungen und hat dabei weiterhin geschossen. Er wurde dann tot auf dem Boden gefunden", erklärte der französische Innenminister Claude Guéant eine halbe Stunde nach dem Einsatz, bei dem zwei Polizisten leicht verletzt wurden.
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Der Anwalt Christian Etelin, der Mohammed Merah mehrmals wegen kleinerer Vergehen vor Gericht verteidigt hatte, nannte den Tod seines ehemaligen Mandanten "ein logisches Resultat der Polizeistrategie". "Die haben ihn immer radikaler in seinem Autismus eingeschlossen, nichts wurde getan, um einen Dialog mit ihm herzustellen", sagte Etelin, der vergeblich seine Vermittlerdienste angeboten hatte. Der Chefankläger der Republik, François Moulins, sagte, der 23-jährige Merah habe zwei Reisen nach Afghanistan und Pakistan unternommen und sich zweimal vergeblich um Aufnahme in die französische Armee beworben. Merah habe sich während eines Gefängnisaufenthaltes radikalisiert. Danach habe er das "Profil eines atypischen, selbst radikalisierten Salafisten" angenommen.
Der französische Präsident Nicolas Sarkozy mahnte die Franzosen in einer kurzen Fernsehansprache nach dem Einsatz zu Geschlossenheit und warnte vor einer fahrlässigen "Vermischung" der Argumente. "Unsere muslimischen Mitbürger haben nichts zu tun mit den Taten eines Verrückten. Bevor er auf jüdische Kinder schoss, hat er muslimische Soldaten der französischen Armee erschossen", sagte Sarkozy. Zugleich kündigte der Präsident neue Sicherheitsmaßnahmen an: Künftig sollen Leute, die terroristische Propagandaseiten nutzen, bestraft werden können. Auch Personen, die nach Afghanistan und Pakistan reisen, "um sich dort indoktrinieren zu lassen", sollen künftig schneller bestraft werden.
Zudem hat Sarkozy den Justizminister aufgefordert, über Maßnahmen nachzudenken, welche die Radikalisierung junger Männer in Gefängnissen unterbinden sollen. Der Einsatz in Toulouse und das Profil des Täters haben unterdessen eine Debatte über die Arbeit der französischen Sicherheitsbehörden ausgelöst. Dabei wird auch die Rolle des Inlandsgeheimdienstes DCRI (Direction centrale du renseignement intérieur) hinterfragt, der Merah im Visier hatte, nachdem dieser 2010 und 2011 in Afghanistan und Pakistan war. Warum hat der DCRI die Attentate dann nicht verhindern können?, fragen sich nun zahlreiche Franzosen, zumal auch Merahs inzwischen festgenommener Bruder Abdelkader dem Geheimdienst im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Kämpfern bekannt war? "Ich kann verstehen, dass man sich die Frage stellen kann, ob es eine Schwachstelle gab", sagte Außenminister Alain Juppé dem Radiosender Europe 1.
Innenminister Guéant wies die Kritik indes ab. Der Inlandsgeheimdienst habe keinen Grund gehabt, Merah nach einer Befragung Ende 2011 zu seinen Afghanistan-Reisen zu beschatten. Es habe keinerlei Indizien gegeben, dass Merah terroristische Pläne habe.